Leseprobe:

 

Angekommen. Noch bevor die Autotür schließt, überfällt uns die Stille. Das leise Geräusch dröhnt in den Ohren, danach wieder nur absolute, umschmeichelnde Ruhe. Angekommen. Fast dreitausend Kilometer Autofahrt, nur von kurzen Schlafpausen hinter dem Lenkrad unterbrochen, fallen in diesem Moment von mir ab. Das bisherige Leben bleibt zurück, der Identitätswechsel ist erfolgt. Eine andere Sprache wird benutzt, das Dasein als Fischer hat für ein ganzes Jahr absoluten Vorrang. Fast nebensächlich soll ein Tagebuch geführt werden; ich hoffe auf gute Gesundheit und ausreichende Kraft, es wirklich zu füllen. Ein neuer Anfang - ein Gefühl, das einem nicht allzu oft vergönnt ist. Jetzt ist Freitag der 30. Juni, frühmorgens 2.20 Uhr. Nur zwei Minuten später aus dem Auto gestiegen, hätte ich den Aufenthalt mit einer Schnapszahl begonnen. Mein Platz am Fenster, zwecks besserer Sicht mit abgedeckten Paletten leicht erhöht, ist eingenommen. Die Sonne blendet bereits, das Meer liegt spiegelglatt vor mir, verdoppelt grellweiße Haufenwolken. In der Ferne auf der Nachbarinsel leuchten die schneebedeckten Spitzen der Bergriesen von Kvaløya (Walinsel). Und wieder die alles umfassende Stille, fühlbar, greifbar, so nirgendwo anders spürbar. Angekommen.

Bereits vormittags 8.00 Uhr erreicht uns nach kurzem Schlaf die Wirklichkeit. Es ist unbedingt Fisch zu banken (norwegisches Wort für klopfen, schlagen), d.h. der vor einem Jahr gefangene und seither im Schuppen hängende getrocknete Fisch muss mit der Axt auf einem Holzklotz weich geschlagen werden. Gräten und Haut lassen sich dann leicht entfernen.

Die erste Inspektion im Schuppen ergibt: die Fische haben den Winter gut überstanden. Keine ungebetenen Gäste, kein Mäusefraß, alles in bester Ordnung. Das muss man sich einmal vorstellen, die ganze Zeit, in der wir in Deutschland aktiv waren, hingen die Trockenfischbündel unberührt im halb offenen, unverschlossenen Schuppen. Der getrocknete Fisch benötigt nämlich ständig frische Luft, um nicht zu verderben, jedoch nicht zu viel, um nicht zu sehr auszutrocknen. Das geeignete Mittelmaß zu finden, erfordert einige Erfahrung. Auch der im Norden verbliebene Hausrat ist unversehrt vorhanden. Die zahlreichen Fischkästen waren dafür als Behälter gut zu verwenden. Mit einer alten Plane abgedeckt, überstand alles die Zeit. Sogar einige aufgesparte Bierbüchsen und halb geleerte Schnapsflaschen überdauerten, vergrößern jetzt die durch den Zoll geschmuggelte knappe Jahresration.

Ein Glück, dass fast alle norwegischen Freunde auf Årnes im Urlaub sind. Jan-Harald und Marie besuchen die Tochter in Larvik (Südnorwegen), Jan und Oddbjörg sind mit ihren erwachsenen Kindern irgendwo in Dänemark unterwegs, Harriet bleibt dieses Wochenende in Tromsö. Nur Arvid ist anwesend, dazu sein Bruder aus dem Süden. Unser ganzes Haus ist vollgestapelt mit Transportkisten, plötzlicher Besuch wäre eine mittlere Katastrophe. Schließlich hat hierzulande jeder Gast absoluten Vorrang, ist es üblich, jegliche Arbeit ruhen zu lassen und sich ausschließlich um ihn zu kümmern.

Abends endlich Arvid begrüßt. Man fällt sich ganz selbstverständlich und ehrlich erfreut in die Arme. Die gegenseitige Herzlichkeit ist deutlich spürbar. Er bot mir sofort sein Boot an, da meines umgekippt und noch winterfest verschnürt bei Jan-Harald am Ufer liegt. Es ist zu reparieren, einige Stellen sind durch zu heftiges Landen an Steinen, leicht beschädigt. Die 5 km Rückfahrt bis zu uns nach Ytre auf der Nordspitze der Halbinsel, erfolgten übrigens im hellen Sonnenschein. Dazu "borgten" wir uns einfach die Räder von Jan-Harald und Marie, die wie immer, d.h. den ganzen Sommer über bei Wind und Wetter griffbereit vor dem Haus am Wegrand stehen. Die Zwei sind zwar nicht anwesend, da wir die Räder aber demnächst zurück bringen, ist so etwas hier überhaupt kein Problem.