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MONTAG

Sie lag auf der Seite, mit angezogenen Knien, als wollte sie sich schützen vor dem Schmerz. Er hatte sie nicht gesehen, weil sie ganz am Rande des Fußwegs lag. Dann sah er die rote Baskenmütze, von der sie sich nie trennte, auf der Erde liegen. Und gleich daneben entdeckte er die gekrümmte Gestalt, rief sie beim Namen.

"Lydia. Lydia." Er glaubte noch immer, sie wäre nur gefallen und käme nicht mehr allein hoch. Doch als er ihre Stirn anfühlte wie bei einem kranken Kind, erschrak er vor der Kälte, die von ihr ausging. Und dann entdeckte er bei dem diffusen Licht einer etwas entfernt stehenden Laterne den großen dunklen Fleck um ihren Kopf. Er fasste hinein, roch an seiner feuchten Hand. Wenn er es bis dahin nicht erkannt hatte, jetzt wusste er, Blut. Und die da vor ihm lag war Lydia, seine Frau. Tot.
Richard setzte sich auf die Erde, dicht neben ihren Kopf. Er war zu keinem vernünftigen Gedanken fähig. Nur das wusste er: einen Arzt benötigte Lydia nicht mehr. Was war nur geschehen? Er hatte gewartet, das Abendbrot stand auf dem Tisch. Doch Lydia war nicht gekommen. Das war nicht ihre Art. Wenn man der Korrektheit, der Zuverlässigkeit einen Namen geben müsste, hieße der bestimmt: Lydia Bromme. So hatte er es immer erlebt. Fast vier Stunden hatte er gewartet. Die Tomatensuppe, die sie so gerne aß, war längst kalt, da war er aufgebrochen, sie zu suchen. Dazu brauchte er nicht lange. Nicht weit von seinem Haus entfernt, dicht neben der Bushaltestelle fand er sie. Doch was nun? Was war geschehen? War sie hingefallen und hatte sich den Kopf aufgeschlagen? Oder - ? Er begann, ihren Kopf abzutasten, dabei entdeckte, erfühlte er die große Wunde an ihrem Hals. Jemand hatte ihr die Kehle durchgeschnitten! Er schrie auf.
Da hatte ihr einer die Kehle durchgeschnitten!!!

Schrie noch immer, blieb sitzen, wo er war, entsetzt auf ihren Kopf schauend.
Wenn nur mehr Licht wäre.
Wenn er nur etwas sehen könnte.

Was sollte er nur tun? Die Polizei! Natürlich musste er die Polizei verständigen. Anrufen. Sofort. Aber er hatte sein Handy zu Hause gelassen, also müsste er schnell dorthin eilen, das Nötige veranlassen. Er erschrak vor seinen eigenen Gedanken. Er dachte, als müsse er in seinem Büro bei einem Fehler das Nötige veranlassen. Und doch - . Aber er konnte sie hier nicht allein liegen lassen. Schutzlos, wie er es empfand. Es war kurz nach Mitternacht. Wenn bisher niemand hier vorbei gekommen war und sie entdeckt hatte, würde auch jetzt niemand kommen und seiner Frau etwas antun. Er lachte laut auf über diesen absurden Gedanken, stand auf. Wankte ein wenig. Das konnte wohl nicht von dem einen Glas Wein sein, das er sich zu Hause beim Warten genehmigt hatte. Vielleicht waren es auch zwei gewesen. Er sah auf Lydia, die seine Frau gewesen war, hinab. Da kamen ihm die Tränen, obwohl er gerade noch gelacht hatte. Sie würde die leckere Tomatensuppe nicht mehr essen können. Weshalb fielen ihm nur solche banalen Dinge ein? Er wandte sich zum Gehen. Da kam ein Mann auf ihn zu. Richard blieb stehen. Wartete, bis der andere heran gekommen war.
"Ich habe die hier gefunden", sagte er und wies auf Lydia. "Haben Sie ein Handy bei sich?" Er wusste selbst nicht, weshalb er so distanziert tat, so, als ginge ihn die Tote dort am Boden nichts an. Wohl wehrte er sich damit gegen die Tatsache, vielleicht das. So dachte er später, als die Polizei ihn verhörte und ihn auf dieses Verhalten ansprach. Der Mann vor ihm sah ihn prüfend an, hielt eine kleine Taschenlampe, die an seinem Handy war, auf die Tote gerichtet. Tat einen erschrockenen Ausruf. Tippte sofort ein paar Ziffern ins Telefon, sagte der anderen Seite, vermutlich dem Bereitschaftsdienst der Polizei, was zu sagen war und erklärte dann: "Sie sind gleich hier. Haben sie versprochen."
Richard wandte sich zum Gehen.
"Sie bleiben hier!" Der Mann hatte Richard eine Hand um den Oberarm gelegt und hielt ihn fest.
Richard wollte die Hand abschütteln, aber die hatte seinen Arm fest umklammert. Er konnte sich, ohne Gewalt anzuwenden nicht lösen. Also wandte er Gewalt an, schlug dem Mann mit der anderen Faust ins Gesicht, so dass der seinen Arm lockerte und rannte weg. In die entgegengesetzte Richtung, in der seine Wohnung lag. Später fragte er sich, was das sollte. Weshalb er nicht mit dem Mann hatte warten wollen. Weshalb er den, der helfen wollte, geschlagen hatte. Was er sonst nie tat. Noch niemals hatte er sich in einer Prügelei befunden, hatte sie immer umgangen. Und jetzt das.

Als er auf Umwegen zurück zum Haus kam, war die Umgebung abgesperrt, die Tote abtransportiert und ein paar Polizisten schienen dort immer noch nach Spuren zu suchen. Der hilfsbereite Mann war verschwunden. Ein paar Schritte abseits standen drei Leute, ein Polizist in Uniform und zwei Zivile. Richard hörte im Vorbeigehen, dass der eine der Männer den Polizisten anschrie, dann war er schon vorbei. Sah sich nicht mehr um. Er ging auf der anderen Seite der Straße bis zu seinem Haus, überquerte die Straße, ohne nach rechts und links zu sehen und verschwand in seinem Aufgang. Niemand hatte ihn angehalten. Niemand irgendetwas gefragt.

Zu Hause, in seinem Wohnzimmer, mit Blick auf die nur spärlich erleuchtete Straße, schämte er sich. Dass er sie allein gelassen mit diesem wildfremden Mann. Dass er diesen Mann geschlagen hatte. Dass er sich in den letzten Jahren zu wenig um Lydia gekümmert, ja, dass sie ihn oft genug genervt hatte. Doch eigentlich nur mit ihrer Gutheit, wie er es nannte. Dass sie sich kümmerte. Obwohl das ja ihr Beruf war. Gewesen war. Beruf: Betreuerin.
Er ging an sein Geheimfach und holte sich den Whisky raus. Goss ein Glas voll. Ein kleines, denn er musste seinen Verstand jetzt beisammen halten. Die Polizei würde kommen, ziemlich bald sogar. Sie würden ihn "über das Ableben seiner Frau benachrichtigen". Vielleicht würden sie ihn gar verdächtigen, wenn sie mitbekamen, dass er vom Tatort geflüchtet war. Ja, direkt geflüchtet. Er fühlte, wie in ihm die Wut wuchs. Wut auf den Jemand, der der kleinen zierlichen Lydia die Kehle durchgeschnitten hatte. Wenn er den erwischte. Der, dachte er. Nicht die. So was macht keine Frau, dachte er. Nahm den Whisky in einem Schluck, doch bevor er das Glas wieder füllte, kam ihm ein Gedanke. Die Polizei würde kommen, das war ja klar. Und sie würden aus Lydias Privatbüro sämtliche Unterlagen mitnehmen. Vielleicht führte die Spur des Mörders ja zu den Betreuten. Dass einer, nicht eine, sich schlecht behandelt gefühlt hatte. Durch die kleine zierliche Lydia, die es allen hatte recht machen wollen. Die immer auf Harmonie bedacht gewesen war. So war es ihm jedenfalls immer vorgekommen, in all den Jahren.
Seine Frau war eine private Betreuerin gewesen, hatte sämtlichen Schriftverkehr in ihrem Büro, die Akten aller Betreuten. Den Zugang hatte sie ihm immer verboten, nicht einmal an der offenen Tür mochte sie ihn sehen. Die Akten waren ihr heilig gewesen, tabu für jedermann außer sich selbst. Jetzt würde er sie einsehen. Schnell stand er auf, rasch ging er ins Büro, suchte und fand einen Karteikasten, der in ihrem erstaunlicherweise nicht abgeschlossenen Schreibtisch stand. Sie hatte sich nie mit dem Internet, mit einem PC überhaupt, anfreunden können, hielt an dem Alten fest: Karteikarten und eine elektrische Schreibmaschine.
Das waren die Karten, die Betreuungsfälle. Vermutlich alle aus den 25 Jahren, die Lydia als Betreuerin gearbeitet hatte. Schnell schob er eine nach der anderen in den Kopierer. Den hatte sie zumindest. 72 Stück. War es einer von denen?
Er setzte sich zurück ins Wohnzimmer, goss sich noch einen kleinen Whisky ein und wartete auf die Polizei, die unweigerlich bald kommen musste. In ihm wuchs die Wut weiter. Die Polizei würde sämtlichen Papierkram mitnehmen, aber er hatte jetzt wenigstens die Namen und Adressen. Wenn die Polizei den Täter nicht fand, so würde er ihn finden. Es hieß doch immer, dass die Polizei überlastet wäre. In jedem Kriminalroman las er das, in jedem Film, in jeder Sendung, die sich mit der Arbeit der Polizei beschäftigte. Überlastet. Die legten schnell was zur Seite, wenn es ihnen nicht wichtig genug war. Mord ist sicherlich wichtig, auch oder gerade in ihrem Provinzstädtchen, aber an einer kleinen unbedeutenden Betreuerin - ?
Er würde die Arbeit jedenfalls nicht allein der überlasteten Polizei überlassen. Sein Plan stand bereits fest, bevor er noch mit einem der Polizisten gesprochen hatte.

***

Zwei Polizeibeamte, eine junge Frau, ein Mann in mittleren Jahren. Sie nannten ihre Namen, die Richard gleich wieder vergaß. Natürlich ließ er sie in die Wohnung, wies ihnen den Platz auf der Couch zu. Eigenartigerweise oder auch nicht merkten sie ihm sofort an, dass er bereits Bescheid wusste. Anstatt zu sagen, dass Lydia Bromme, die Frau von ihm, Richard Bromme, tot aufgefunden wurde, fragte der Mann:
"Woher wissen Sie es?"
Er fragte nicht, wer hat es Ihnen gesagt, durch die Frage des Polizisten schien bereits ein Verdacht hindurch. Vielleicht waren sie aber auch misstrauisch geworden, weil er so früh am Morgen, es war kurz nach 6.30 Uhr, schon angezogen vor ihnen saß. Auf dem Tisch eine Flasche Whisky. Um sich nicht noch mehr verdächtig zu machen, erzählte Richard, dass er sie gefunden hatte. Sie würden es ohnehin rausbekommen.
"Und weshalb sind Sie weg gelaufen?"
Richard hob unbestimmt die Schultern. "Ich weiß nicht." Er wusste es tatsächlich nicht. Es war wohl der Schock gewesen.
"Sie wirken seltsam - unberührt", warf die Polizistin ihm vor.
So was sagt man nicht, dachte Richard, das sagen die Polizisten vielleicht zueinander, wenn sie allein sind, aber nicht zu dem Ehemann, der gerade seine Frau verloren hat.
"Sie tut mir sehr Leid", antwortete Richard darauf. Ja, das tat sie. Sehr Leid. Aber er war sich nicht völlig sicher, ob es ein Verlust für ihn war, dass Lydia in dieser Wohnung nicht mehr ein und aus ging. Doch darüber wollte er spekulieren, wenn er allein war.
"Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte? Wer sie so sehr gehasst hat?"
"Lydia hatte keine Feinde. Sie war eine Seele von Mensch und ging in ihrer Betreuungsarbeit auf. War immer nur für andere da." Es klang wohl etwas bitter, so dass er versuchte, ein freundliches Lächeln dazu zu tun. Aber das war ein Fehler. Denn die Polizistin hakte sofort nach: "Wie war Ihre Ehe? Würden Sie sie als harmonisch bezeichnen?"
Was ging dieser Zicke seine Ehe an?
"Ja." Mehr nicht.
"Ihre Frau war Betreuerin? Was kann ich mir darunter genau vorstellen?"
"Sie war die rechtliche Vertretung für Menschen, die allein nicht zurecht kamen. Mit ihren Finanzen, den Behördenwegen, mit ihrem Haushalt usw."
"Und wie wird man Betreuer?"

Warum fragten sie ihn das? Gab es da keine Richtlinien, die die Polizei einsehen konnte? Trotzdem antwortete er, als läse er den Text ab: "Wenn jemand aus dem Umfeld einer Person der Meinung ist, dass diese Person nicht mehr allein zurecht kommt, beantragt derjenige Betreuung. Auf diesen Antrag hin bestimmt die Betreuungsbehörde beim zuständigen Amtsgericht einen Psychologen, der die Umstände überprüft. Wenn der Psychologe zu der gleichen Meinung kommt, wird vom Gericht ein staatlich anerkannter Betreuer berufen. Meine Frau war solch ein Betreuer bzw. eine Betreuerin, die aber freiberuflich arbeitete."
"Und wo hatte sie ihr Büro?", schoss der Polizist sofort dazwischen.
"Hier in der Wohnung."
Richard wies den Beiden Lydias Büro. Der Polizist telefonierte und sagte dann zu Richard.
"Wir müssen alles hier beschlagnahmen. Sie bekommen es später zurück. Die Kollegen von der Spurensicherung sind gleich da, die sehen sich auch noch ein wenig in der Wohnung um, wenn es Ihnen recht ist."
"Nur im Büro, ansonsten benötigen Sie einen Hausdurchsuchungsbefehl."
Denn gerade noch rechtzeitig war ihm seine Messersammlung eingefallen und Lydia war mit einem Messer ermordet worden. Vielleicht sahen sie einen Zusammenhang. Schon durch sein Weglaufen war er gewiss verdächtig geworden.
"In Ordnung", sagte der Polizist. Was immer das heißen mochte.
"Und was ist mit Datenschutz? Kann jeder einfach die Akten von ansonsten unbescholtenen Bürgern einsehen?"
Er fand sein Büro- oder Politikerdeutsch selbst zum Kotzen, aber meinte trotzdem, dass das jetzt der richtige Ton war.
"Es geht um Mord", erklärte die junge Frau nachdrücklich.
"Und da ist alles erlaubt?"
"Sind Sie denn nicht daran interessiert zu erfahren, wer Ihrer Frau das angetan hat?"
Mehr als ihr glaubt, dachte Richard.
"Es wird alles im Rahmen der bestehenden Gesetze geschehen", sagte der Polizist und dann gingen sie endlich.

Richard hatte im Büro angerufen und gesagt, er fühle sich nicht. Die Sekretärin schien sehr erstaunt, denn das war bisher noch nie geschehen. Dass er krank war oder sich krank meldete. Er ging sogar, wenn er Fieber hatte. War pflichtbewusst, wie er selbst meinte, andere es wohl als verrückt, auch unverantwortlich abtaten. Lydia war dann zwar immer besorgt um ihn gewesen, hatte das mit dem Pflichtbewusstsein aber verstanden. Darin stimmten sie überein. Aber er ließ seine Arbeit auf der Dienststelle, versuchte es zumindest und sie hatte sie ständig zu Hause. Und nicht nur in ihrem Büro. Sie erzählte viel und oft, sprach mit ihm über Probleme, was ihn zunehmend nervte. Niemals Ruhe zu haben. Niemals einfach nur vor der Röhre sitzen und dem Geschehen dort folgen zu können. Doch bei all den Problemen, die sie vor ihm ausbreitete, nannte sie nie, niemals Namen.
Jetzt hatte er sie vor sich zu liegen. Zweiundsiebzig Namen. Zweiundsiebzig Schicksale. Waren das viel oder wenig in 25 Jahren? Vielleicht gab es sogar jemanden, den sie von Anfang an betreute. Er würde sehen.
Er legte die Blätter vor sich auf den Tisch. Dort standen nur die Namen drauf, die Adresse, Telefonnummer, das Geburtsdatum. In der rechten oberen Ecke war ab und zu ein Kreuz gemalt, das hieß dann wohl, dass der Betreute verstorben war. Oft fand er auch einen Haken, was vielleicht bedeutete, dass die Betreuung beendet war. Wenn es diese Zeichen nicht gab, hieß das wohl, dass Lydia immer noch für denjenigen arbeitete oder besser gesagt, gearbeitet hatte. Er musste von jetzt an stets in der Vergangenheit von ihr denken, von ihr reden. Er merkte, wie plötzliche Trauer in ihm aufstieg und ihm Tränen in die Augen traten. Mehr Trauer über sie, für sie, die auf so entsetzliche Art sterben musste. Hätten sie sich getrennt auf normale Weise, wäre da eher Erleichterung gewesen. Nicht, dass sie sich gestritten hätten, das nicht, dafür war Lydia auch nicht der Typ, aber ihre Lamentiererei hatte ihn zunehmend genervt. Trotzdem war das kein Grund, ihr etwas anzutun. Niemals hatte er ihr Gewalt angetan. Und neben der Trauer kam wieder die Wut hoch, Wut auf Unbekannt, der so eine Gemeinheit und Brutalität hatte begehen können.
Er begann die Blätter zu sortieren. Zuerst nach dem Alphabet. Das verwarf er schnell, dann legte er die zur Seite, die abgeschlossen waren - zweiundfünfzig. Mit diesen würde er sich zuletzt beschäftigen, wenn überhaupt. Er hatte sich zwar vorgenommen, jeden dieser Menschen, deren Namen vor ihm lagen, aufzusuchen. Aber bei der Vielzahl der abgeschlossenen Betreuungen würde es ihm vielleicht nicht gelingen. Also erst einmal die aktuellen Fälle. Zwanzig Stück. Einmal hatte Lydia gesagt, um leben zu können, müsse man mindestens 45 Menschen betreuen. Aber es war ihr schon lange zu viel geworden und sie hatte keine neuen Betreuten mehr angenommen. Schließlich verdiente Richard ja genug zum gemeinsamen Lebensunterhalt.
Nun sah er die 20 Karten durch, unabhängig von Geschlecht und Alter der Betreuten oder von der Dauer der Betreuung. Das Logischste war wohl mit einem zu beginnen, über den Lydia oft gesprochen hatte, also einen der Problemfälle. Das waren natürlich mehrere gewesen. Nicht nur einer. Aber wie sollte er denjenigen herausfinden, wenn er keinen Namen hatte? Er nahm an, dass Lydia genauer geworden war in ihren Akten, in den Aufzeichnungen zu einzelnen Gesprächen oder geleisteten Arbeiten. Aber die hatte er ja nicht, sondern die Polizei. Also musste er anders vorgehen.

Lydia hatte oft von einem Jugendlichen gesprochen. "Zu faul zur Arbeit oder einer sinnvollen Beschäftigung. Sitzt nur zu Hause rum und zieht sich Videos oder irgendwelche Filme rein. Der verdient ne Tracht Prügel.", hatte sie tatsächlich gesagt. Sie, die gegen jede Gewalt war. "Stattdessen bekommt er einen Betreuer, eine wie mich, die ihm helfen soll bei den Transaktionen und einen Sozialarbeiter, der ihn in die Gemeinschaft zurückführen soll. So nennen sie das", hatte sie weiter getönt und nicht nur einmal, jedes Mal wieder, wenn sie mit ihm zu tun gehabt hatte. "Eine Tracht Prügel wäre billiger."
"Vielleicht hat er zu viel Schläge zu Hause bekommen, dass er so geworden ist", hatte Richard eingewendet. "Von nichts wird man doch nicht so. Außer, wenn man krank ist."
"Jaja, die schwere Kindheit, die wird immer und überall bemüht. Und krank ist der nicht. Einfach nur faul. Faul. Stinkend faul!" So hatte es jedes Mal geendet und jedes Mal lauter. Wie oft fragte er sich und manchmal auch sie, weshalb sie so einen Job übernähme, wenn ihr das so gegen den Strich ging.
"Es gibt die anderen", hatte sie dann entgegnet, "denen man helfen muss, und denen ich gerne helfe, weil sie sonst mit dem Leben nicht zurecht kommen."
Aber eigentlich hatte sie fast immer nur geschimpft. Über die meisten ihrer Klienten. Entweder waren die faul oder perverse Schweine wie der eine, der auch ständig bei ihr vorkam, den sie jetzt schon über 10 Jahre betreute, sogar zweimal. Einmal sieben Jahre, danach eine Verlängerung.

Als erstes wollte er sich den Jugendlichen vornehmen. Vielleicht hatte sie mit ihm ähnlich gesprochen, ihn beschimpft, ihn am Arm genommen und hoch gezerrt und nicht nur sinnbildlich durch ihre Arbeit, sondern tatsächlich. Ihn hoch gezerrt, angeschrien und von sich geschubst. Geschlagen wird sie ihn nicht haben, schon aus Angst. Der hätte ja zurück schlagen können. Sie hatte immer eine panische Furcht vor körperlicher Gewalt gehabt.
Richard bemerkte, dass er wenig von dieser Frau weiß, mit der er über 30 Jahre verheiratet gewesen. Nur das, was ihn selbst anging. Liebebedürftig, zärtlich. Aber nur in den ersten Jahren. Dann waren sie beide abgestumpft, hatten den Beischlaf mehr und mehr als eheliche Pflicht angesehen, zunehmend als lästige Pflicht. Da hatten sie es ganz sein gelassen. Er hatte eigentlich kaum mal was vermisst, und sie wohl auch nicht. Wenn sie Zeit hatte, war sie ihm auch eine gute Hausfrau gewesen, konnte wunderbar kochen. Alles, was sie zubereitete, war sehr schmackhaft gewesen. Und jetzt? Als hauptsächliche Erinnerung blieben ihre täglichen und abendlichen Tiraden über ihre Betreuten. Er war nah dran gewesen, auszuziehen. Wirklich und wahrhaftig, sich zu trennen. Endlich nach Feierabend seine Ruhe zu haben, in Ruhe fern zu sehen oder zu lesen oder Musik zu hören. Bei all dem war sie in den letzten Jahren nur noch störend gewesen. Wenn es nicht zu solch einem bitteren Ende gekommen wäre, er wäre wohl erleichtert, endlich allein in der Wohnung sein zu können. Eine stille Wohnung ohne ihre zu hohe und zu laute Stimme. Doch so hatte es nicht enden sollen und neben der Trauer, die er trotz allem ihretwegen empfand, kam auch wieder die Wut hoch. Aber auch der Wunsch zu verstehen.

Er nahm sich wieder die Namen vor. Da gab es nur einen Jugendlichen. Kevin Hart. Er wollte ihn aufsuchen, möglichst gleich. Er hatte drei Tage für sein "Unwohlsein" zur Verfügung. Vermutlich konnte er mehr rausschlagen, wenn bekannt würde, weshalb ihm unwohl war. Aber wie sollte er vorgehen? Wie sich vorstellen? Welchen Grund für seinen Besuch angeben. Er las sich laut die wenigen Zeilen auf der Karteikarte vor:
Kevin Hart. Geboren 17. Mai …
Er stutzte. Der Junge hatte ja am heutigen Tag Geburtstag. Wurde genau 20 Jahre alt. War das somit ein guter Tag oder aber ein ganz ungünstiger? Ein Tag, an dem Fremde immer ungelegen in eine Gesellschaft von Freunden oder der Familie kamen. Noch dazu an einem runden Geburtstag. Aber vielleicht war es ja gerade die Gelegenheit, Kontakt zu bekommen. Nicht lange grübeln, dachte er, hinfahren.

Es zeigte sich, dass er nicht einmal zu fahren brauchte. Kevin Hart wohnte nur ein paar Häuserblocks entfernt. Da wusste der vermutlich auch, wo seine Betreuerin wohnte, und hatte ganz gewiss Gelegenheit -
Keine vorschnellen Schlüsse, ermahnte sich Richard und machte sich auf den Weg, kaufte im nahe gelegenen Supermarkt noch schnell einen Blumenstrauß. Schließlich hatte der Bursche Geburtstag. Es war gerade 11.00 Uhr. Wenn der nicht arbeitete, war er jetzt wohl zu Hause, hoffentlich schon aus dem Bett gekrochen. Und um diese Zeit war auch noch keine Geburtstags-Gesellschaft zu erwarten.