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- Leseprobe:
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- Sie stehen sich gegenüber. Mit ausgestrecktem Arm. In der Hand hält jede eine Pistole.
Sie zielen aufeinander. Rosa zielt mitten zwischen Elisabeths Augen. Elisabeth auf Rosas
Brust. Sie stehen sich ziemlich dicht gegenüber, höchstens fünf Meter voneinander
entfernt, so weit, wie es der Raum zulässt. Und der ist nicht groß.
- Es begann mit einer Annonce, das ist nicht einmal ein Jahr her. Senioren gesucht, die
gern Tischtennis spielen. Später haben sie sich erzählt, dass sie sich noch lange nicht
als Senioren gesehen haben, beide nicht, waren doch gerade erst knapp über sechzig, da
ist man kein Senior. Haben beide gedacht, damals, vor fast einem Jahr. Trotzdem sind sie
hingegangen zu diesem Treffpunkt. Beide. Aus verschiedenen Richtungen kommend. Sie kannten
sich nicht, alle nicht. Die drei Männer und vier Frauen, die sich dort zusammenfanden und
nun Mittwoch für Mittwoch Tischtennis spielten. Die anderen waren richtige Senioren, also
Alte, der eine sogar fast 90, aber beweglich waren alle und gespielt haben sie von Mal zu
Mal mit größerer Freude. Elisabeth und Rosa haben sich gleich ein bißchen mehr
zusammengehalten, es war Sympathie auf den ersten Blick, vielleicht lag es auch nur daran,
daß sie die jüngsten in der Runde waren. Gerade über sechzig. Äußerlich unterschieden
sie sich sehr voneinander. Rosa wirkte trotz ihres Alters feminin, trug auch beim Spielen
stets einen Rock, meist dazu eine helle Bluse oder ein helles T-Shirt, ihre halblangen
Haare waren schwarz gefärbt. Elisabeth wirkte dagegen sportlich burschikos, trug Jeans,
T-Shirts, ihre grauen Haare waren sehr kurz geschnitten.
- Gleich zu Anfang hatte der älteste der Spieler gesagt: "Also Sportsfreunde, das
sind wir ja jetzt nun, und darum schlage ich vor, daß wir uns gleich von Anfang an duzen.
Ich heiße Walter."
- Dann hatten sich alle die Hand gegeben und ihre Vornamen genannt. Elisabeth war das ein
bisschen zu schnell gegangen. Sie hatte Schwierigkeiten, andere erwachsene Menschen gleich
mit Du anzureden. Sie war das nicht gewohnt. Den anderen schien es nichts auszumachen.
Auch Rosa nicht. Aber vielleicht merkte man es ihnen nur nicht an, so wie ja auch ihr,
Elisabeth, nicht.
- Jeden Mittwochnachmittag spielten sie ihre zwei Stunden, schmetterten sich die Bälle um
die Ohren bis sie erschöpft waren, tranken zwischendurch Kaffee, die Männer manchmal ein
Bier, und dann trennten sie sich wieder. Gingen oder fuhren in verschiedene Richtungen
davon und freuten sich, einander eine Woche später wieder zu sehen.
- Rosa lebte allein in ihrer Dreizimmerwohnung, Elisabeth allein in ihrem Häuschen mit
kleinem Garten. Rosa hatte einen Sohn mit Frau und Kind, der in Süddeutschland arbeitete,
und selten seine Mutter besuchte. Elisabeth hatte auch einen Sohn, der selbständiger
Tischler war, über wenig freie Zeit verfügte und auch sehr selten zu seiner Mutter kam.
Und beide waren Rentnerinnen. So viele Gemeinsamkeiten. Aber das wussten sie damals, vor
einem Jahr noch nicht voneinander. Nichts, was auch die anderen Senioren nicht von ihnen
wussten. Rosa kannte die Rückhandschwäche von Elisabeth, und Elisabeth hatte
herausgefunden, dass Rosa Schwierigkeiten mit stark angeschnittenen Bällen hatte. Wozu
musste man mehr voneinander wissen, wenn man sich nur jede Woche zwei Stunden zum
Tischtennisspielen traf. Aber merkwürdig, seit den gemeinsamen Sportstunden fühlten sie,
dass die Tage bis zum nächsten Mittwoch sich quälend hinzogen. Der Mittwoch wurde zu
einem Tag, auf den man wartete. Auf den sie beide warteten. Wie es den anderen fünf
Mitspielern erging, mag dahingestellt bleiben. Es könnte sein, dass sie ebenso empfanden.
Aber es geht hier nur um Elisabeth und um Rosa. Also, sie fühlten sich einsamer.
Elisabeth sagte sich, es ist Unsinn, auf diesen einen Tag warten zu sollen. Hatte sie
nicht genug zu tun in Haus und Garten? Und hatte sie nicht ihr Hobby? Aber man kann nicht
immer lesen, es gibt Zeiten, da fühlt man sich einsamer, wenn man ein Buch in der Hand
hat. Weil es niemanden gibt, dem man davon erzählen kann. Dann setzte sie sich aufs
Fahrrad und fuhr durch die Dörfer ihrer Umgebung, oder sie fuhr an den Fluss und sie
fühlte sich gleich besser.
- Rosa schrieb Briefe an ihren Sohn. Der hatte wenig Zeit, wie schon gesagt, und
antwortete nie. Auf jeden Fall schrieb er keine Briefe. Wenn ein Brief seiner Mutter bei
ihm ankam, telefonierte er, und sprach eine Weile mit ihr. Rosa liebte es, Briefe zu
schreiben, weil sie dabei länger gedanklich mit ihrem Sohn verbunden war. Das verstehen
die jungen Leute nicht mehr, sagte sie später zu Elisabeth, und die konnte das nur
bestätigen.
- Erst nach fast einem halben Jahr, die Weihnachtszeit näherte sich, waren sie das erste
Mal auch außerhalb des Mittwoch zusammengekommen. Sie standen nach dem gemeinsamen Spiel
schon auf dem Hof, Elisabeth hatte ihr Fahrrad freigeschlossen, Rosa wirkte etwas
unschlüssig, sagte dann plötzlich: "Hast du morgen Nachmittag Zeit? Wir könnten
zusammen Weihnachtsgeschenke einkaufen."
- Sie wußten nicht, wie folgenschwer diese zwei kleinen Sätze waren. Elisabeth lächelte
erfreut, so schien es Rosa jedenfalls, dann nickte sie einfach, ja, natürlich, warum
nicht.
- "Zu zweit macht es mehr Spaß", fügte Rosa noch hinzu. Und sie verabredeten
sich für den nächsten Tag.
- Dort erfuhren sie von ihren Söhnen, den Enkelkindern. Das erste erinnerungswürdige
Gespräch, nachdem sie über Wochen nur über Dinge geredet hatten, die ausschließlich
mit den Mittwochnachmittagen zusammenhingen. Höchstens kam sonst einmal das Wetter zur
Sprache, das in jenem Jahr besonders nasskalt im Sommer und freundlich im Frühjahr
gewesen. Manchmal klagte einer ein bisschen über Zipperlein, die jedoch niemand als
körperliche Gebrechen bezeichnet hätte. Das waren die Gespräche während der
Spielpausen gewesen. Einer der Alten erzählte ab und zu Witze. Bisher hatten sie nichts
vermisst. Sie kamen nicht zum Sprechen zusammen. Doch jetzt war das anders. Gemeinsame
Einkäufe lagen hinter ihnen mit Aussagesätzen.
- "Ach, wie hübsch!"
- "Sehr schön!"
- "Darüber wird sich die Kleine freuen."
- Was man eben so redet, wenn man Weihnachtsgeschenke kauft. Im Café des Kaufhauses
klagte Elisabeth, ihr Junge komme so selten, er wäre früher so anhänglich gewesen, und
Rosa bestätigte, sie haben so viel Arbeit die Jungen, wenn sie Arbeit haben. Sie zeigte
Bilder ihrer Enkeltochter, Kind mit Schultüte, Kind mit Katze, Kind im Auto, einem
großen Auto. Elisabeth entschuldigte sich, keine Bilder dabei zu haben, aber beim
nächsten Mal. Dann war der gemeinsame Nachmittag zu Ende. Rosa fuhr in ihre
Dreizimmer-Neubauwohnung, Elisabeth in ihr kleines Einfamilienhaus.
- Am darauffolgenden Mittwoch trafen sie sich wieder, dem letzten vor dem Fest. Es war wie
immer, fast wie immer. Ein wenig war in ihnen das Gefühl gewachsen, in diesen vier Tagen,
sie hätten ein Geheimnis vor den anderen. Dabei hätte niemand etwas dagegen gehabt, sich
aber auch niemand gefreut, es wäre den anderen nicht interessant gewesen. Unerheblich.
Gleichgültig, ob sich da zwei näher kennenlernten über die Spieltage hinaus. Weshalb
also sollten sie darüber sprechen? Sie trennten sich wie an den üblichen
Mittwochnachmittagen, doch wussten sie schon so viel voneinander, dass beide die Festtage
bei den Söhnen verbringen würden, Rosa in Süddeutschland, Elisabeth mehr im Norden.
Über Silvester, wenn sie wieder zu Hause sein würden, wurde nicht gesprochen. Viele gute
Wünsche in alle Richtungen, und die Alten setzten sich auf ihre Räder, in ihre Autos
oder liefen einfach los.
- Elisabeth lässt die Hand mit der Pistole sinken. "Ich hab noch nie auf einen
Menschen gezielt. Rosa antwortet nicht, zielt nur weiter auf Elisabeths Kopf. Einer
müsste jetzt zählen, aber es ist niemand da. Keine Sekundanten. Keine Zeugen.
- Elisabeth hebt seufzend den Arm wieder hoch und sagt: "Wenn wir den ganzen Quatsch
hinter uns haben, sollten wir von vorn anfangen, einfach ganz von vorn und die
Vergangenheit ruhen lassen."
- Rosa nickt, zielt aber unbeirrt weiter.
- "Es muss einer zählen", sagt Elisabeth, "oder willst du bis in alle
Ewigkeit so stehen?"
- "Dann zähl doch. Bis drei. Und dann drücken wir ab."
- Elisabeth lässt erneut den Arm sinken und schüttelt den Kopf. "Nein, ich zähl
nicht. Schon schlimm genug, dass ich das hier mitmache, aber zählen tu ich nicht."
- "Also gut, zähl ich", sagt Rosa, und während Elisabeth den Arm anhebt und
auf Rosa zielt, sagt diese laut: "EINS!"
- Der erste Mittwoch im neuen Jahr. Sie verabredeten sich gleich für den nächsten Tag
ohne irgendwelche Vorwände in dem Café, in dem sie bei ihrer ersten Begegnung gesessen
hatten. Auf freiem Territorium sozusagen. Aber so benannten sie das selbstverständlich
nicht. Es war eine eigenartige Scheu in ihnen, die Distanz sofort und ganz zu
überbrücken. Vielleicht die Scheu des Älteren. Schwierigkeiten, sich jetzt noch auf
Freundschaften einzulassen. Man könnte sogar von Mißtrauen sprechen. Um so erstaunlicher
war dann Elisabeths Frage. Sie hatten ihren Kuchen gegessen, den Kaffee getrunken und
einmütig noch einen Schoppen Wein bestellt. Auch hier wieder die Übereinstimmung, die
seltsame - sie bevorzugten beide trockenen Rotwein. Sie tranken den ersten Schluck. Rosa
ließ den Wein genießerisch auf der Zunge balancieren. Und da kam Elisabeths Frage.
- "Hast du Lust, mit mir in den Urlaub zu fahren?"
- Und weil Rosa nicht sofort antwortete, sie nur ein wenig erstaunt betrachtete, erzählte
Elisabeth, ihr Sohn habe ihr zu Weihnachten eine Reise geschenkt, acht Tage Andalusien,
und sie, also Elisabeth, könne jemanden mitnehmen, weil er, der Sohn, ja keine Zeit habe.
- Rosa antwortete noch immer nicht direkt. Stellte ihrerseits die Frage, die nichts mit
der Reise zu tun zu haben schien. "Wie hast du den Jahreswechsel verbracht? - Ich
fühlte mich sehr allein", fügte sie hinzu.
- Und da hatte es doch wieder mit Elisabeths Frage zu tun.
- Elisabeth nickte. "Merkwürdig, wie allein man sich manchmal fühlen kann." Am
liebsten hätte sie hinzugefügt, dass sie drauf und dran gewesen wäre, Rosa anzurufen,
ließ es dann aber. Wartete auf die Beantwortung ihrer Frage.
- Rosa drehte ihr Glas in der Hand, nahm einen Schluck, hielt das Glas gegen Licht.
"Ich liebe es, wenn der Wein so funkelt." Und wie verliebt starrte sie auf die
rote Farbe. "Wenn du mich wirklich mitnehmen willst..."
- Sie sahen sich beide in die Augen. Elisabeth nickte.
- Rosa nickte auch. "Ich war noch nie in Andalusien."
- Elisabeth sagte: "Ich auch nicht." Dann lachte sie ziemlich laut, als hätte
sie einen Witz erzählt oder gehört, und Rosa lachte auch.
- Elisabeth nannte den Ort. Ein unbekannter kleiner Ort an der Küste. Nicht weit entfernt
von Malaga. Das kannten beide, zumindest vom Hören.
- "Und wann?"
- "Im März", entgegnete Elisabeth. "Da ist es noch nicht so warm und kalt
auch nicht. Man soll sogar schon baden können."
- "März schon. Ist ja bald." Rosa betrachtete nachdenklich den rotfunkelnden
Wein. "Am 14. hab ich Geburtstag."
- "Die Reise geht bis zum 14. 3. Am nächsten Tag ist Abreisetag. Willst du deinen
Geburtstag lieber mit deiner Familie feiern?" Elisabeth starrte Rosa enttäuscht an.
- Die schüttelte den Kopf. "Ist sogar gut so. Meistens bin ich am Geburtstag doch
allein. Außer am Sechzigsten, da haben wir groß gefeiert. Mein Sohn ruft sonst immer an,
und wenn ich diesmal nicht da bin, braucht er wenigstens kein schlechtes Gewissen zu
haben. Das hat er sonst."
- "Wie bei mir", bestätigte Elisabeth. "Also fahren wir gemeinsam. Ich
freu mich. Manchmal bin ich immer noch voller Erstaunen darüber, wie groß die Welt für
uns geworden ist."
- "Wer aber kein Geld hat, kann auch nicht reisen."
- "Selbstverständlich bekommst du die Reise geschenkt", sagte Elisabeth hastig,
"ist doch von meinem Sohn."
- "Ich möchte sie bezahlen. So ein teures Geschenk kann ich nicht annehmen. Ich
meinte überhaupt, dass man Geld braucht zum Reisen." Plötzlich war da ein
Missklang, der beide zum Schweigen brachte.
- "Ich kann kein Geld von dir nehmen, weil die ganze Reise ja für zwei Personen
geschenkt ist. Kommst du etwa nicht mit?"
- Rosa schüttelte den Kopf, was immer das heißen mochte. Beide schwiegen weiterhin.
- "Also wenn das gar nicht anders geht - " begann Rosa. "Also, ich fahr
dann mit. Natürlich. Irgendwie mach ich das wieder gut. Einverstanden?"
- "Einverstanden."
- Als sie schon dabei waren, sich voneinander zu verabschieden, fragte Rosa noch:
"Ist Spanien nicht sehr gefährlich?"
- Die folgenden Wochen vergingen mit ihren Reisevorbereitungen. Und mit gegenseitigen
Besuchen. Zuerst besuchte Rosa Elisabeth in ihrem Häuschen. Beim zweiten Mal Elisabeth
Rosa in ihrer Neubauwohnung. Nichts in ihren Wohnungen deutete auf irgendetwas hin, was
sie entweder näher zueinander bringen könnte, noch näher, als sie es nun ohnehin schon
waren, und nichts, was sie gleich wieder entzweien könnte. Es waren ganz normale
Wohnungen von älteren Leuten, mit angehäuften Souvenirs, Bildern der Familie, Büchern.
Bei Elisabeth vielleicht ein paar mehr als bei Rosa. Sie hatten keine Zeit, die Bücher in
den Regalen durchzusehen, wohl auch kein Interesse. Gleich vom ersten Besuch an wälzten
sie Kataloge, Kunstreiseführer, Elisabeth erzählte von einem Reisebericht, den sie
gerade über Andalusien gelesen hatte. Sie kauften ein, was sie glaubten, im Frühjahr in
Spanien zu benötigen.
- Einmal zog Rosa Elisabeth in einen Hutladen. "Wir sollten uns Strohhüte
kaufen", sagte sie.
- Elisabeth lachte nur. Nie im Leben hatte sie einen Hut getragen. Aber Strohhüte im
Februar waren nicht am Lager. Der Verkäufer vertröstete sie auf den Juni, frühestens
Mai. Da sind sie längst zurück aus dem warmen Andalusien.
- "Da muß es meine rote Baskenmütze wieder tun", bedauerte Rosa.
- "Wir reisen nach Andalusien, nicht ins Baskenland", sagte Elisabeth.
- Rosa grinste nur und meinte: "Aber gegen die südliche Sonne solltest du dir auch
was besorgen."
- Elisabeth kaufte im Kaufhaus eine grüne Basketballmütze. Auf dem großen Schirm
prangte eine Sonnenblume.
- Die fanden sie beide witzig. In Deutschland, im Alltagsleben, wäre Elisabeth nie auf
die Idee gekommen, solch eine jugendliche Mütze zu tragen. Im Urlaub, meinte sie zu Rosa,
wäre alles erlaubt. Und die stimmte ihr zu.
- Doch etwa drei Wochen, bevor die Reise losgehen sollte, stellte Rosa ihre Frage wieder,
die sie diesmal als Aussagesatz formulierte: "Spanien ist gefährlich. Ich habs
gelesen. Kriminalität ist weit verbreitet."
- Elisabeth schüttelte den Kopf. "Hast du etwa Angst? Ich habe jedenfalls nichts
davon gelesen."
- "Weil du nicht die richtige Literatur hattest. Ja, ich hab Angst. Ich hab auch hier
in Deutschland Angst. Abends geh ich nicht mehr raus."
- "Ich habe noch nie davon gehört, dass in Spanien ein Tourist ums Leben gekommen
wäre, höchstens bei einem Autounfall."
- "Ich hab schon viel gehört", beharrte Rosa.
- Elisabeth war etwas ungehalten. "Ich weiß nicht, was du jetzt willst. Willst du
lieber hier bleiben?"
- "Du müsstest eine Waffe haben!"
- "Eine Waffe?" Elisabeth blieb vor Erstaunen der Mund offen. "Was soll ich
denn mit einer Waffe?"
- "Ich meine ja keine richtige. Eine Gaspistole eben. So mehr als Schreck. Ich hab
son Ding. Hatte ich mir gleich nach der Wende gekauft."
- Elisabeth lachte. "Mein Gott. Ich hab mein Lebtag noch keine Waffe vermisst, auch
keine Gaspistole. Und wenn du eine hast, reicht das für uns beide, hin und zurück."
- Rosa blieb ernst. Sagte aber nichts mehr.
- Zehn Tage vor der Abreise tat Rosa geheimnisvoll am Telefon. "Wir müssen uns
sehen", sagte sie, "wenn du kannst, sofort."
- Elisabeth konnte. Und sie war neugierig, ob des wichtigen Tonfalls ihrer Freundin.
Gleich nachdem Elisabeth die Wohnung betreten und sich den Mantel ausgezogen hatte,
überreichte Rosa ihr ein in Zeitungspapier eingeschlagenes Päckchen.
- Elisabeth wickelte es schnell aus, gespannt wie in ihrer Kinderzeit, und hielt - eine
Pistole in der Hand. Beinahe hätte sie sie fallengelassen. So erschrocken war sie.
- "Es ist keine richtige", meinte Rosa beruhigend. Sie ging ans Fenster,
öffnete es, so dass ein Schwall kalter Luft ins Zimmer drang, löste den Sicherungsbügel
und betätigte den Abzug. Es gab einen Knall und Elisabeth konnte sehen, wie eine Gaswolke
aus der Öffnung schoss. Schnell schloss Rosa wieder das Fenster.
- "Wir wollen uns ja nicht vergiften." Sie lachte und reichte Elisabeth die
Waffe zurück. "Hab ich für dich besorgt. Bitte, nimm sie. Nur so zur Sicherheit.
Sonst kann ich vor Angst nicht schlafen."
- "Was es alles gibt", meinte Elisabeth erstaunt, und vorsichtig strich sie
über das Metall. "Sieht aus wie eine echte."
- "Soll sie ja auch. Muss doch abschrecken."
- "Aber ich nehme sie nur geliehen, haben will ich sie nicht, nur deinetwegen nehme
ich sie für die acht Tage." Sie schüttelte sich sichtlich, so dass Rosa wieder
lachte. "Sieht fast so aus, als hättest du Angst."
- "Und wie bekommen wir sie ins Flugzeug?"
- Rosa schien aufgelebt, seit Elisabeth die Pistole angenommen hatte. "Natürlich
darf sie sich nicht im Handgepäck befinden. Koffer werden nicht so genau kontrolliert.
Lass das mal meine Sorge sein."
- Die letzten Tage vergingen rasend schnell. Am Mittwoch spielten sie noch einmal
Tischtennis, ließen so nebenbei am Schluss verlauten, dass sie das nächste Mal nicht
kommen würden, beide nicht, dass in der Zwischenzeit ein Aufenthalt in Andalusien läge.
Die anderen wünschten eine gute Reise, einer der Männer warnte, sie sollten sich nicht
von den heißblütigen Spaniern vernaschen lassen, die anderen beneideten sie ein wenig um
den Frühling im Süden, weil doch in Deutschland gerade so feuchtkaltes Wetter herrschte.
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- Am Freitag war der Tag der Abreise gekommen. Sie waren beide aufgeregt. Elisabeth konnte
immer nur an die Pistolen denken. Und als der Angestellte vom Flughafensicherheitsdienst
fragte, ob sie ihren Koffer einen Moment unbeaufsichtigt gelassen oder jemand Fremder ihr
ein Päckchen zum Transport überlassen hätte - da hätte sie ihm fast die Existenz
dieser Gaspistole gestanden. Rosa, die das wohl gemerkt hatte, mischte sich ein mit der
bewusst dümmlichen Frage an den Sicherheitsmann, ob es denn in der letzten Zeit Grund zur
Besorgnis gegeben habe. Sie würde das erste Mal fliegen, und sie wäre schon soo
aufgeregt. Der Mann lächelte nur sehr knapp, fast war es nicht zu sehen, und stellte an
Rosa die gleichen Fragen. Als diese beide verneinte, fügte er noch hinzu. "Es ist
nur zu Ihrer eigenen Sicherheit."
- Die Koffer entschwanden ihren Blicken, die Plätze waren, zumindest auf dem Papier,
belegt, der Transitraum nahm sie auf.
- "Jetzt gehts endlich los", sagte Rosa entspannt.
- "Noch nicht." Elisabeth wirkte leicht verkrampft. Das gab sich aber, sobald
sie im Flugzeug saßen. Vom Flug und von der Fahrt mit dem Transporttaxi, das sie in ihr
Quartier brachte, wäre nichts weiter zu sagen, wenn es da nicht diesen Satz von Elisabeth
gegeben hätte. Sie waren gerade ins Taxi gestiegen und fuhren die ersten Kilometer vom
Flughafen in Malaga ab, da sagte sie, sich in die Polster zurücklehnend, mit dem Gesicht
zu Rosa: "Ich bin so glücklich wie seit langem nicht. Es gab Zeiten, da glaubte ich,
nie im Leben mehr froh werden zu können."
- Das Merkwürdige war, dass Rosa nickte und bestätigte: "Ja, diese Zeiten gab
es."
- Als hätten sie in der Vergangenheit auch ähnliche oder gar die gleichen Geschehnisse
erlebt, durchlitten, durchstanden. Wunderten sie sich darüber? Vielleicht nicht mehr, sie
hatten schon so etwas wie den Gleichklang der Seelen entdeckt, wollte man mit den Worten
eines Heimatromans sprechen, obwohl es beide niemals so genannt hätten. Sie lasen keine
Heimatromane. Es war immer nur von Sympathie die Rede, wenn überhaupt. Aber diese gerade
gesprochenen Sätze würden wieder aufgegriffen werden.
- Doch so weit war es noch nicht. Vorerst erlebten sie nach der gemeinsamen Freude die
gemeinsame Enttäuschung, als sie an ihrem Ferienort ankamen und sahen, wo sie acht Tage
zubringen wollten, Elisabeth dachte sogar, mussten. Ihr Appartement war Teil einer großen
Ferienanlage, bestehend aus mehreren dreistöckigen Häusern, die im Halbkreis standen mit
weißen Fassaden im maurischen Stil, in der Mitte befand sich eine große graue
Betonfläche mit Pflanzen in Kübeln rund um einen Swimmingpool mit unnatürlich blau
wirkendem Wasser, dahinter hohe Palmen. An den Palmen jedoch erfreuten sie sich, Palmen
vermittelten sofort den Eindruck von Ferne. Und hier in der Ferne waren sie also
angekommen, wenn auch in einer klotzigen Ferienanlage. Sie bewohnten im ersten Stock eine
Wohnung mit zwei Schlafzimmern, einem großen Wohnzimmer, einem Bad, einer winzigen Küche
und einem Balkon, der direkt über dem Swimmingpool lag. Die Wohnung enttäuschte nicht,
und als Rosa auf den Balkon trat, war sie sogar begeistert.
- "Komm schnell", rief sie Elisabeth zu, die sich noch im Wohnraum aufhielt,
"komm schnell her."
- Wenn sie über den Swimmingpool hinwegsahen, hatten sie einen weiten Blick über das
Land, im wesentlichen freies unbebautes Gelände, ansteigend bis zu einem entfernten
Hügel, auf dem ein sehr weißes Haus in der Sonne glänzte.
- "Dort wandern wir hin", bestimmte Elisabeth sogleich.
- "Jetzt? Ich habe Hunger."
- Beide lachten und waren mit ihrer Umgebung versöhnt, des schönen Ausblicks wegen.
- Sie waren erschöpft und blieben am Ort, gingen nur in die Clubgaststätte, einem etwas
steril wirkenden auf spanisch zurechtgemachten großen Saal, um ausreichend zu essen, und
zum Abschluss das erste Glas spanischen Weins zu trinken. ....
- .... Elisabeth packte in ihren winzigen Rucksack die Thermoskanne mit kaltem Tee vom
Vorabend, zog die Jacke an, setzte sich ihre grüne Wandermütze auf. Rosa legte in ihre
Handtasche eine Tafel Schokolade, zog ihre Jacke an, und setzte die sportlich rote
Baskenmütze auf. Wie immer trug sie einen Rock, einen derben weiten Wanderrock. Sie
betrachteten sich, bevor sie den Raum verließen, gemeinschaftlich im Spiegel und
grinsten, zufrieden mit ihrem Aussehen.
- "Olé", rief Elisabeth und schwenkte ihre Mütze.
- "Olé", wiederholte Rosa, ihre Baskenmütze drehte sie dabei auf dem Kopf.
- Nun machten sie sich auf den Weg. Sie gingen zuerst ans Meer. Beide hatten noch nie am
Mittelmeer gestanden, noch nie hineingefasst und nicht die Füße gebadet. Sie taten es
mit großem Behagen. Das Wasser war kühl, aber nicht kalt. Man hätte baden können. Sie
taten es nicht, wandten sich nach links, wo sich der weiße Strand dehnte ohne Häuser.
Nichts als Sand und rechts das Meer. So gingen sie eine Weile schweigend, bis Elisabeth
sagte: "Nun kannst du beginnen."
- Und Rosa begann.
- Rosas Erzählung:
- "Mein Name war nicht einfach nur ein Name. Mein Name war Programm. So sah es
jedenfalls meine Mutter, als sie mich 1938 Rosa nannte. Rosa wie Rosa Luxemburg. Es
gehörte damals sogar einiger Mut dazu, ein Kind so zu nennen, glaube ich. Denn viele der
Nachbarn und Verwandten kannten die Gesinnung meiner Eltern. Sie wussten sicherlich, dass
die sich in den ersten Hitlerjahren kaum geändert haben mochten, und mit diesem Namen
wurde es manch einem erst offenbar. Trotzdem Rosa, nach dem Idol meiner Mutter. Dem hing
sie an seit ihrer frühen Jugendzeit, war ihren Ideen immer treu geblieben. Ich habe
meinen Namen aus dem gleichen Grunde später oft abgelehnt, ja, ich hätte mich anders
genannt, wenn ich nur einen zweiten besessen hätte. Aber das war erst viel später. Mit
meiner Muttermilch sog ich sozusagen die Biographie dieser Frau ein, konnte sie fast
physisch begreifen, denn meine Mutter suchte auch im äußeren ihrem Idol nahezukommen.
Sie trug die Frisur der Luxemburg, ja sogar eine Zeitlang die langen Kleider der
Jahrhundertwende, bis mein Vater sich dagegen wehrte. Aber das hat sie mir später nur
erzählt, ein wenig empört, ein wenig lächelnd, einem Toten trägt man nichts nach, auch
wenn die Kränkung ins Tiefste ging. Mein Vater erlitt den Heldentod, wie man meiner
Mutter schwarz auf weiß ins Haus trug, er krepierte in seinem Schützengraben im fernen
Stalingrad. Ausgerechnet in Stalingrad hatte er kämpfen müssen, ausgerechnet gegen das
Sowjetvolk, das er so liebte. Vielleicht war er deshalb auch ein schlechter Soldat,
vielleicht musste er deshalb sterben, weil er nicht auf seine Brüder schießen wollte.
Wer weiß das. Von den anderen Soldaten, die direkt mit ihm waren, sollen viele überlebt
haben. Ich habe ihn bewusst nie kennengelernt. In der ganzen Zeit meines Lebens,
ausgenommen natürlich das erste Jahr, als noch kein Krieg war, ist er nur einmal auf
Heimaturlaub gekommen, da war ich gerade zweieinhalb, ich habe keine Erinnerung, nicht die
kleinste. Darüber war ich Zeit meiner Jugend und auch später noch traurig, ich hätte so
gern einen Vater gehabt, noch dazu solch einen im Klassenkampf gestählten, wie er es
gewesen ist. Ich war trotzdem immer stolz auf ihn, habe mir eine rührende Geschichte für
seinen Tod erfunden, an der ich festhielt. Ich stellte mir vor, er wäre an einem frühen
Morgen auf einen sowjetischen Soldaten zugegangen, hätte sich mit ihm verbrüdern wollen
und wäre dafür von den deutschen Faschisten ermordet worden. Von hinten. Niemand weiß,
wie es wirklich gewesen ist, aber ich hielt an meiner Legende fest und vielleicht war es
ja tatsächlich so zugegangen. Manchmal geschehen Dinge im Leben, die man sich gar nicht
vorstellen kann.
- Doch genug davon. Mein Leben soll im Vordergrund stehen, wie vereinbart. Jedoch auch das
meines Vaters, meiner Eltern gehört dazu. Sie haben mich geformt, so wie ich jetzt neben
dir gehe.
- Ich hatte keine Geschwister, es lag am frühen Tod meines Vaters. Vermutlich hätte ich
trotzdem keine gehabt, meine Mutter fürchtete, einen Sohn zu bekommen und damit einen
künftigen Soldaten. Ich wuchs also allein auf mit meiner Mutter, die auch nicht wieder
heiratete. Es war anfangs eine harte Zeit, aber es gibt aus den Jahren meiner Kindheit
auch sehr schöne Erinnerungen, zum Beispiel, als meine Mutter nach dem Kriege in unserem
Ort mit ein paar Genossen die Freie Deutsche Jugend gründete. Sie nannten das so, ob es
diese Art von Jugendgruppen auch woanders gab, weiß ich nicht. Denn die damals war etwas
anderes, als die Organisation, die später folgte und den gleichen Namen trug. Zu ihr
konnten sämtliche Kinder und Jugendliche kommen, ganz unabhängig vom Alter und von der
politischen Gesinnung. Man durfte ja damals noch nicht erwarten, daß die braune Ideologie
so ganz aus den Köpfen der ehemaligen Hitlerjugend verschwunden war. Wir wollten sie ja
erziehen, die jungen Menschen. Also mussten wir offen sein für alle. Ich sage WIR, dabei
war ich gerade selbst erst acht Jahre alt. Ich erinnere mich an Hoffeste, wo alle Kinder,
die in den Mietshäusern der Umgebung wohnten, eingeladen waren, es gab da einen Onkel
Pelle, der Bonbons regnen ließ und Eierlaufen und Sackhüpfen wurden veranstaltet für
winzige Preise, über die sich jeder freute, der sie gewann. Es wurde ein
Laienspieltheater, eine Flöten- und eine Volkstanzgruppe gegründet. Alles mit ganz wenig
Mitteln, nur mit viel Engagement. Ich war in allen Gruppen, wenn es sich irgendwie mit der
Zeit in Einklang bringen ließ, ich lernte Flöte spielen, tanzte und sprach die Texte,
die meine Mutter des Nachts erdachte oder für unsere Belange umschrieb. Einmal spielten
wir Pinoccio. Ich durfte und wollte den kleinen Pinoccio spielen.. Wenn er log, drehte ich
mich immer vom Publikum weg und kam mit der großen Nase, die ich mir schnell aufgesetzt
hatte, hervor. Es kam sehr gut an, und alle lachten. Aber ich war froh, daß Pinoccio
endlich bekehrt wurde und nicht mehr lügen musste. Es war mir grässlich zu lügen Ich
habe als Kind eigentlich nie Notlügen gebraucht. Das fand ich sehr unehrenhaft, obwohl
ich dieses Wort sicherlich nicht benutzt hatte.
- Später, als die Pionierorganisation und die richtige FDJ als Nachfolgeorganisation
gegründet wurde, war ich eine der ersten Pioniere und kurz darauf auch eine der ersten
FDJlerinnen. Damals war das noch nicht selbstverständlich wie später, damals gehörte
wirklich Überzeugung dazu, das tägliche Wollen um Veränderung, zum Aufbau unseres
sozialistischen Vaterlandes. Aber das brauche ich dir wohl nicht zu erzählen.
Schließlich bist du auch in unserem Land aufgewachsen. Ich war jedenfalls dabei, klar,
dazu hätte es der Aufforderung meiner Mutter gar nicht bedurft. Und mit achtzehn stellte
ich sofort den Antrag auf Aufnahme in die Partei der Arbeiterklasse. Ein Jahr
Kandidatenzeit, ein wenig verkürzt wegen meines Elternhauses, und dann Mitglied. Als ich
das Parteibuch in der Hand hielt, war ich sehr stolz.
- Aber vorerst war ich eine glühende FDJlerin. Zusammen mit meiner Freundin Elke
agitierten wir die ganze Klasse. Und so mancher konnte sich unseren Argumenten nicht
verschließen, so dass es bei uns die meisten Beitritte gab. Wir setzten eine
wöchentliche Agitationsstunde durch, als es noch längst nicht obligatorisch an den
Schulen war. Wir waren jung, wir waren engagiert, es schien, als sollte uns alles
gelingen. Ich kam auf die Oberschule, wollte unbedingt Lehrerin werden. Stalins Tod
erschütterte mich derart, dass ich tagelang weinte. So hätte ich vermutlich nicht einmal
beim Tod meines Vaters geweint. Einmal, es muss kurz danach gewesen sein, hörte ich, wie
der Direktor zu einer Lehrerin sagte, er wäre froh, dass der endlich weg wäre, und er
hoffe, dass man jetzt leichter leben könne, ohne ständig Angst haben zu müssen. In
diesem Augenblick drehte sich die Lehrerin um, sah mich, machte ihm ein Zeichen und ging
kopfschüttelnd weg. Ich war so empört über das, was ich gehört hatte, dass ich meinen
Direktor sofort zur Rede stellte. Wie er das gemeint habe, fragte ich ihn, er könne doch
eben nicht den Vater aller Werktätigen gemeint haben. Aber er antwortete nur böse, das
ginge mich überhaupt nichts an, und ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten
kümmern. Ich glaubte, er hätte bisher überhaupt nichts verstanden, wäre wohl noch mit
der alten Hitlerideologie behaftet. Denn all das waren ja meine eigenen Angelegenheiten,
es konnte doch nicht angehen, dass der Direktor einer Schule, der für seine Lehrer und
für die Erziehung seiner Schüler verantwortlich war, so denken konnte. Schon wenn er
meinte, daß es mich nichts anginge, lauerte der Klassenfeind hinter seinen Worten. Ich
besprach mich mit Elke, wir erwogen die verschiedensten Handlungsmöglichkeiten, zuerst
wollten wir zu ihm nach Hause gehen und mit ihm reden, er solle sich überlegen, ob er mit
dieser Meinung weiterhin Direktor sein könne. Oder, so dachten wir, die ganze Schule
müsse sich gegen ihn stellen, dass er zurücktreten müsse. Aber wie sollten wir alle
Schüler dazu bringen? Die meisten waren ja nicht einmal in der FDJ. Den ganzen Nachmittag
grübelten wir und verwarfen alle Pläne immer wieder, bis wir glaubten, wir könnten das
nicht allein entscheiden, wir müssten uns Rat holen. Zuerst gingen wir zu meiner Mutter.
Die meinte, man müsse wohl erst einmal wissen, warum und wovor er Angst habe. In unserem
Staat müsse die doch niemand haben. Ja, reden müsse man mit ihm. Das war uns zu weich.
Und wir zogen wieder los, noch immer unschlüssig. Bis Elke auf die Idee kam, einen
unserer guten Genossen in der Stadt zu befragen. Wir wussten nicht wie, und da gingen wir
zur Polizei, um zu erfahren, wie wir diesen Genossen erreichen könnten, und dort wurden
wir gefragt, was wir von ihm wollten, na und so weiter. Jedenfalls war der Direktor am
nächsten Tag weg. Aber nicht einfach zurückgetreten, nein, er war zum Klassenfeind
übergelaufen, war nach Westberlin abgehauen. Wenn wir ihm nur früher auf die Schliche
gekommen wären, dachten wir. Und wir ärgerten uns, so lange untätig gewesen zu sein.
Wieviel Schaden mochte er in den Jahren seines Wirkens an unserer Schule schon angerichtet
haben. Das war eines meiner Schlüsselerlebnisse. Ich habe daraus gelernt, und nie wieder
so lange gezögert, wenn es galt, einen Klassenfeind der gerechten Strafe
zuzuführen."
- Da redet die Rosa und Elisabeth hört ihr gebannt zu. Ein Leben wie aus einem
kommunistischen Lehrbuch, und nichts hat davor Bestand. Kein Meer, das sich in leichten
Wellenbewegungen bis an den Horizont dehnt, seltsam geformte Muscheln, nach denen man sich
bücken, vielleicht sie gar sammeln könnte. Den Frauen füllen sich beim Laufen ihre
Schuhe mit Sand, sie bleiben manchmal stehen, ihn wieder auszuschütten, es läuft sich
offenbar mühsam. Sie scheinen es nicht zu bemerken. Eine erzählt, die andere hört
angestrengt zu, dieser unglaublichen Bilderbuchbiografie.
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