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"Haben Sie wirklich nichts gehört?" fragte einer der Männer, der sich mit Kommissar Bürger vorgestellt hatte. Er muß mehrere Male gefragt haben, bis ich reagierte. Da wußte ich schon, was passiert war. Direkt vor meiner Haustür, wie dieser Mann mir mehr oder weniger schonend hatte beibringen wollen, direkt vor meiner Haustür war Achim erschossen worden. Ich konnte es einfach nicht fassen, wie so ein Stückchen Blei sieben Jahre Zusammenlebens einfach zerriß. Nun gut, Achim hatte noch seine Wohnung gehabt, hin und wieder auch dort geschlafen, wenn er nervös war, sich ärgerte oder einfach seine Ruhe haben wollte. Wie an jenem Abend. Aber wir hatten trotzdem sieben Jahre zusammengelebt.
Ich erinnerte mich, wie Achim gegangen war. Die Tür war mit einem Knall ins Schloß gefallen, und dann, ja, plötzlich wußte ich es wieder, dann hatte es noch einen Knall gegeben, ein wenig später.
"Ich habe einen Knall gehört", sagte ich leise.
"Wann war das?" fragte Bürger.
"So gegen elf. Achim war gerade gegangen."
"Und wenn es vor Ihrer Haustür knallt, da sehen Sie nicht nach, was das gewesen sein könnte?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Seltsam, sehr seltsam", murmelte der Kommissar. Er saß in sehr korrekter Haltung vor mir, ein schmaler, fast knochiger Mann mit grauen Haaren, das Notizbuch schreibbereit in der Hand, als wäre nicht soeben ein Mensch ermordet worden. Dann hackte er mit Fragen auf mich ein: "Hatte er Feinde? - Hat er sich mit jemandem gestritten in der letzten Zeit? -Hatten Sie das Gefühl, daß er vor Ihnen etwas verbarg?"
Dabei wurde mir so übel, daß ich es gerade zum Klo geschafft habe. Ich behielt einen sauren Geschmack im Mund zurück. Vom Rotwein, den wir zusammen getrunken, nachdem wir uns durstig geliebt hatten. Vielleicht war ich einfach nur betrunken und bildete mir den ganzen Quatsch ein, dachte ich plötzlich. Ich brauche jetzt bloß ins Bett zu gehen, und morgen kommt Achim vom Arbeitsamt, meinetwegen auch von Bestermann, hat endlich den Traumjob gefunden, und dann -
 
Im Wohnzimmer saß der Kommissar, als wäre ich nicht weg gewesen. Die anderen Typen waren verschwunden.
"Er hatte keine Feinde", sagte ich zu ihm. "Und er hat mir auch immer alles gesagt. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander." Plötzlich kam mir das Ganze absurd vor. Es konnte einfach nicht sein, daß einer meinen Freund ermordete, noch dazu vorsätzlich.
Ich schrie den Mann an, das könne nur ein Irrtum sein, einer sei vielleicht vorbeigekommen, hätte seine Pistole ausprobieren wollen, oder zwei hätten sich gestritten, die Kugel sei fehlgegangen, oder -
Mir fiel nichts mehr ein, und mein Kopf war so unheimlich schwer. Ich ließ ihn auf den Tisch sinken. Ob Bürger blieb oder ging, war mir völlig egal. Aber der ist dann gleich aufgestanden, hat gesagt, das wäre gut möglich aber solche Zufälle doch zu selten.
"Wenn Ihnen irgend etwas einfällt, rufen Sie mich an."
Der Abschiedssatz eines Kommissars in jedem billigen Kriminalfilm. Aber was passiert war, schien Wirklichkeit zu sein, auch wenn ich es nicht glauben wollte.
Ich hob den Kopf und starrte vor mir auf den Tisch. Der war noch bedeckt mit den Essensresten vom letzten gemeinsamen Fondue. Die Dinge waren unberührt von den Geschehnissen. Und doch war plötzlich alles anders.
Dann hörte ich die Tür ins Schloß fallen. Es war das gleiche Geräusch, das letzte, das ich von Achim gehört hatte. Da war es mit meiner Beherrschung zu Ende.

 

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Und dann geschah es. Als ich am nächsten Tag von der Arbeit kam und in meine Straße einbog, stieß ich fast mit Reinhold Leicht zusammen. Er mußte aus einem der Häuser gekommen sein. Leicht überquerte die Straße und ging auf ein großes Auto zu. Erst, als er schon an mir vorbei war, mir den Rücken zukehrte, wußte ich, wer da ging.
"Herr Leicht", rief ich laut.
Der Mann drehte sich blitzschnell um, steckte seine Hand in die Tasche. Ich bereute sofort den Anruf. Meine Pistole lag zu Hause im Schubfach. Im Betrieb benötigte ich sie schließlich nicht.
Leicht betrachtete mich, sah einmal die Straße hinauf und hinunter, hob die Augenbrauen.
"Ich wollte mich kurz mit Ihnen unterhalten, Herr Leicht." Warum zitterten mir plötzlich die Hände? Ich hatte doch hier nichts von dem Mann zu befürchten. Aber Achim war auch auf offener Straße erschossen worden. Jedoch nachts. Jetzt war es kurz nach 16.00 Uhr. Wurde Leicht nicht mehr beschattet? In der Nähe sah ich ein parkendes Auto, es schien leer zu sein. Oder doch nicht? Ich konnte nicht genauer hinsehen, ohne daß es aufgefallen wäre.
Reinhold Leicht betrachtete mich aus der Entfernung, überquerte dann wieder die Straße, stellte sich vor mich hin, fragte: "Ja? Und worüber hätten wir uns zu unterhalten, liebe junge Frau?"
Ich liebe junge Frau sagte betont munter: "Das müssen wir doch nicht hier machen. Wollen wir nicht in das Café an der Ecke gehen?" Mich mußte der Teufel geritten haben. Aber ein Café war öffentlicher als eine Straße, auf der kein Mensch ging.
Ich zeigte in die Richtung, wo sich das Café befand. Meine Finger zitterten ein wenig.
Wenn wir dorthin gingen, mußten wir an meiner Wohnung vorbei. War Leicht der Mörder, mußte er sich an das Haus erinnern. Vielleicht verriet er sich.
Leicht musterte mich. Mir wurde heiß und kalt. Es war gefährlich. Wenn er sich verriete, noch mehr. Er würde seine Schlüsse ziehen. Dann würde ich mich verraten.
"Ich habe wenig Zeit", sagte Leicht, "aber mit solch einer bezaubernden jungen Dame ist es mir ein Vergnügen, meine Termine etwas aufzuschieben."
Ich ging neben dem großen schlanken Mann her, stellte mir dazu die Frau aus dem Fensterausschnitt vor. Es gelang nicht recht. Leicht wirkte jünger als er vermutlich war, machte einen wendigen Eindruck, wenn nicht gar einen windigen. Und gut sah er aus. Das hatte ich gar nicht mehr in Erinnerung.
Wir kamen an meinem Haus vorbei. Der Mann schwatzte, als ginge ihn diese Straße, dieses Haus nichts an, als würde sie keine Assoziationen wecken. War er ein so guter Schauspieler? Oder?
"Was verschafft mir denn die Ehre?" fragte er. "Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, immer nur Arbeit, da freut man sich direkt, wenn man mal ein freundlicheres Gegenüber hat, niemand, vor dem man auf der Hut sein muß, damit man nicht über den Löffel barbiert wird. Bei Ihnen kann mir doch nichts passieren, oder?" Sein Lächeln war kalt, scharf sein Blick. Na, mein Lieber, wenn du nach oben willst, mußt du aber an deiner Sprache feilen. Sonst nimmt dir keiner den feinen Herrn ab. Ich lächelte ihn an.
Im Café half er mir aus dem Mantel, winkte dem Kellner, der dienstbeflissen herzueilte. So schnell war bei mir bisher kein Kellner gekommen.
Leicht bestellte sich einen französischen Kognak, ich trank lieber Tee.
Die Gaststube war ziemlich leer. An einem der Tische, die nicht direkt neben unserem standen, saß ein älteres Ehepaar und aß Kuchen, ein alter Mann hatte ein Bier vor sich, döste, wie es schien. Und gerade eben kam noch ein Mann, mittleren Alters, sah sich um und setzte sich dann an einen der Nebentische. Nirgendwo ein Polizist. Oder war einer dieser Leute etwa ein Ziviler? Keiner sah mir so aus. Aber ich war wenigstens nicht allein mit einem Verbrecher.
"Ich bin Journalistin", das hatte ich mir auf dem Weg ins Café überlegt. Als Leicht die Stirn runzelte, fuhr ich schnell fort: "Es geht nicht so sehr darum, was Sie jetzt machen, das interessiert mich auch, aber wenn Sie nicht darüber reden wollen - "
"Was interessiert Sie dann?" fragte Leicht lauernd.
"Mich interessiert mehr die Vergangenheit", behauptete ich, "Sie sind doch Opfer des Stalinismus."
Reinhold Leicht lehnte sich selbstgefällig und locker zurück.
"Ich war damals bei Ihrem Prozeß dabei, können Sie mir davon erzählen?"
"Von welcher Zeitung kommen Sie?"
Diese Frage hatte ich natürlich erwartet. "Ich bin freie Journalistin. Sie wissen selbst, man muß clever sein in dieser Zeit, interessante Stoffe anbieten, sonst kann kein Freier leben. Und Ihr Stoff ist interessant."
"Wem sagen Sie das, Frolleinchen", antwortete Leicht gelöst. "Ich erinnere mich an Sie, ungelogen. Sie sind mir damals schon aufgefallen mit Ihrem frechen Haarschnitt. Damals hab ich gedacht, aus der Kleinen wird mal was. Komisch, daß man so was im Blick hat, ja?" Er griff nach meiner Hand. "Verdammt, was haben Sie denn für kalte Hände?" fragte er. Ob er daraus Schlüsse zog? Warum log der Kerl? Damals hatte ich lange Haare und trug keine Brille. Nie im Leben konnte der mich wiedererkennen. Warum lügt der bloß? Vielleicht spricht er niemals die Wahrheit, Lügen als Normalität.
Ich nahm meinen Kalender mit den leeren Notizseiten aus der Tasche.
Leicht schüttelte den Kopf. "Nichts aufschreiben. Gut, ich erzähl Ihnen was, aber das müssen Sie schon so behalten. Irgendwo noch einen Kassettenrecorder eingeschaltet?" Bevor ich etwas sagen konnte, griff er nach meiner Handtasche und blickte hinein.
"Erlauben Sie mal", rief ich empört.
Leicht lachte gemütlich. "Reine Vorsichtssache. Ich mag keine Live-Sendungen. Maxe", rief er den Kellner, "noch mal das gleiche." Fast träumerisch sagte er dann: "Ja, damals, ach, wie lange ist das her, damals hab ich den Grundstock für mein heutiges Geschäft gelegt."
"Was?"
Der Mann trank die Hälfte des Kognaks, sah überlegend aus dem Fenster, grinste mich dann an. "Ja, ich war also ein Politischer, natürlich. Ich hatte Kunstgegenstände in den Westen gebracht. Für diese DDR, also für diesen Unrechtsstaat hier war so was viel zu schade. Wenn man was verändern wollte, mußte man den schädigen, wo man konnte. Das hatte die Verbrecherjustiz auch so gesehen. Spionage haben sie festgestellt, was es ja, genau betrachtet, auch gewesen ist. Zehn Jahre. Paff. Zehn Jahre gelbes Wunder. Bautzen, wenn Sie wissen, was das bedeutete."
"Ein paar Jahre vorher hätte man Sie dafür erschossen. Oder nach Sibirien gebracht."
"Soll ich wohl dankbar sein, daß das erst 1988 passiert ist, ja?" Leicht zündete sich eine Zigarette an, hielt auch mir die geöffnete Packung hin. Als ich abwehrte, sagte er: "Entgeht Ihnen was, echt", und trank den Rest des Kognaks.
"War keine angenehme Zeit", fuhr er dann fort, "aber ich hab was draus machen können. Leicht kann leicht aus allem was machen, müssen Sie sich merken. Wenn Sie mal was brauchen, was es sonst so ganz regulär nicht gibt, nichts Verbotenes natürlich, dann wenden Sie sich vertrauensvoll an mich. War schon immer so. Früher gab’s weniger, da war's einfacher. Jetzt muß man sich Gebiete suchen, wo es immer noch nicht alles auf dem regulären Markt gibt. - "
"Zum Beispiel?" fragte ich.
Aber er reagierte nicht auf meine Frage, paffte genüßlich einen Rauchring in die Luft und fuhr fort: "Die anderen Politischen waren manchmal schon arme Säue, solche Idealisten, wissen Sie. Die konnten sich nicht behelfen, die haben echt gelitten, manch einer ist auch drauf gegangen, weil er sich nicht hat anpassen können. Im Knast mußt du dich anpassen, sonst gehst du drauf. Die das nicht konnten, haben wochen-, manchmal monatelang in 'ner ungeheizten Zelle auf der Erde liegen müssen, ist nicht so gesund. Und bloß, weil sie stur waren. Ich hab mich schnell unentbehrlich gemacht. Geht auch im Knast, da besonders. Die beste Schule fürs Leben, ehrlich. - Maxe noch einen. Wollen Sie nicht doch mal probieren? Ist der beste hier, echt französisch."
Er mußte ziemlich oft hier sein, wenn er den Kellner duzte. Meine Theorie, daß Achim etwas gesehen hatte, was nicht für ihn bestimmt war, bekam auch wieder mehr Gewicht. Vielleicht traf beides zu, die Vergangenheit und Zeuge krimineller Handlungen.
"Als Sie damals verurteilt wurden, erinnern Sie sich? Da - "
"Na klar, erinnere ich mich. Die Tussi hat mir ja Spionage angehängt, klar, so was vergißt man doch nicht."
"Und Sie haben dem Gericht gedroht, sich zu rächen."
Leicht betrachtete mich, als würden ihm jetzt ganz andere Gedanken kommen. Ich wurde rot unter seinem Blick.
"Das hat mir zwei Jahre mehr eingebracht", sagte er dann nur. Er trank wieder. Mir kam es vor, als tränke er sich nüchtern. Der Alkohol zeigte überhaupt keine Wirkung.
"Damals war ich sauer, ja, ehrlich, heute bin ich froh. Für den Politischen hab ich gleich nach der Wende Amnestie bekommen und jetzt krieg ich Entschädigung, als, wie haben Sie das so schön genannt, als Opfer des Stalinismus. Heißt bloß ein bißchen anders."
"Haben Sie nie daran gedacht, sich am damaligen Gericht zu rächen? Wie Sie es ja auch gedroht hatten?" bohrte ich weiter.
Leicht legte seine Hand auf meine und drückte fest zu. Es schmerzte. Er wollte mir weh tun, eindeutig. "Du bist nicht zufällig eine Kriminalbeamtin?" Leichts Stimme war leise, klang gefährlich.Wieder wurde ich rot, lachte dann aber und schüttelte den Kopf....