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Es hatte sich nichts geändert. Als hätte es diese fünf Monate nicht gegeben. Barbara Sommer streift noch ebenso rastlos durch die Wohnung. Sie setzt sich ans Fenster, wie so oft in diesen zwei Wochen, sieht hinaus in diesen tristen Oktobertag. Noch hängen Blätter an den Bäumen, aber sie wirken so tot wie sie sind, grau, farblos. Eine ruhige Straße. Vor dem Haus ist ein winziger Vorgarten, den sie aus dem dritten Stock nicht sehen kann, aber sie kennt ihn, hat einige der inzwischen verwelkten Blümchen selbst gepflanzt. Dann folgt der schmale Bürgersteig. Wenn Barbara wie jetzt aus dem Fenster blickt, vermag sie nur die Straße zu sehen und die gegenüberliegenden Baumreihen, dahinter Häuser. Selten fährt ein Auto vorbei, nur selten bewegt sich etwas, das ihre Augen beschäftigen kann.
Sie steht auf, geht in die Küche. Alles ist ordentlich. Die zwei Tassen, Untertassen und Brettchen vom Frühstück, das Besteck hat sie sofort abgewaschen. Es ist nichts zu tun, als zum wiederholten Mal Kaffee zu trinken und das Geschirr gleich wieder abzuspülen. Sie geht zu ihrem Schreibtisch, steht einen Augenblick wie überlegend davor, setzt sich, öffnet die Schubladen, eine nach der anderen, nimmt Papiere heraus, Briefe, liest, weniges wirft sie in den Papierkorb zu ihren Füßen, das Meiste legt sie zurück. Sie kann nichts wegwerfen, es fällt ihr ungeheuer schwer. Schon immer.
Plötzlich zuckt sie zusammen. Greift ein paar zusammengelegte Blätter, erkennt sie offensichtlich sofort, faltet sie auseinander, glättet sie mit einer Handbewegung gerade vor sich auf den Tisch. Fünf linierte Bögen, zehn Seiten dicht beschrieben mit einer krakeligen Kinderhandschrift auf Vorder- und Rückseite. Barbara lehnt sich zurück, schließt einen Augenblick die Augen, dann nimmt sie das erste Blatt. Auf der linken oberen Ecke ist ein Name geschrieben. Marlene Döring steht da und Klasse 8 a. Wieder schließt Barbara die Augen, legt das Blatt zurück auf den Tisch. Eine Weile verharrt sie so, dann nimmt sie es entschlossen auf und beginnt zu lesen.
 
Wie ich meine Unschuld verlor
 
[...]
 
Als Barbara beim letzten Wort angekommen ist, lächelt sie böse. Dann beginnt sie, die Blätter zu zerreißen, alle fünf in ganz kleine Schnipsel, die wirft sie in den Papierkorb.
„So!" sagt sie. „Das ist vorbei, ein für allemal vorbei." Es klingt befriedigt.
Sie steht auf und geht mit schnellen Schritten in die Küche, brüht sich eine große Tasse Kaffee auf, türkisch, wie sie ihn am liebsten hat.
Während der Kaffee zieht, läuft sie wieder los, jetzt langsam, wie suchend. Sie zögert nur kurz, bevor sie Martins Zimmer betritt. Es ist sein Zimmer geblieben, obwohl er nur alle vier Wochen nach Hause kommt. Er sagt immer, das Studium würde ihn so fordern und hier könne er nicht lernen. Studieren muss sich sehr geändert haben, denkt Barbara dann manchmal, vermutlich zog er einfach die Zerstreuungen der Großstadt vor.
Es riecht nach abgestandener Luft. Sie muss unbedingt lüften, bevor der Junge kommt. So kann er ja hier nicht schlafen. Aber sie öffnet das Fenster nicht gleich, sieht sich in dem kleinen Raum um, findet es immer wieder merkwürdig, wenn sie ihn betritt, was selten genug vorkommt. Nichts liegt herum. Als wäre das Zimmer seit langem nicht bewohnt. Keine Poster an den Wänden wie bei anderen Jugendlichen. Nichts Persönliches ist zu sehen. Eine sterile unpersönliche Ordnung. So, als würde er sich hier nicht zu Hause fühlen, als wäre es nur ein Schlafplatz für ihn. Nicht mehr. In seiner Kinderzeit hatte sie ständig hinter ihm her räumen müssen. Sein Zimmer war ein Chaosstall gewesen. Wie hatte sich das in den letzten Jahren nur so wandeln können? Genauer gesagt, im letzten Jahr. Seit sie umgezogen waren, hatte er nichts verändert. Nur einmal aufgeräumt und so belassen.
Sie tritt an den Schreibtisch, will sehen, ob die sterile Ordnung sich hier fortsetzt. Oder ob nur alles, was stört, in die Fächer geworfen wurde. Zuvor jedoch holt sie ihren Kaffee, setzt die Tasse vor sich auf die Schreibtischplatte. Trinkt einen Schluck, dann zieht sie, wie zuvor bei sich, nacheinander die Schubläden des Schreibtisches auf, hat nicht das Gefühl, ein Tabu zu berühren, Persönlichkeit zu verletzen. Es gibt nichts Persönliches. Nicht einmal in den Fächern des Schreibtisches.
Hefter aus der Schulzeit ordentlich übereinander gestapelt. Glaubte er, sie noch je gebrauchen zu können? Ein paar Puzzlespiele, ein Fotoalbum.
Sie nimmt es heraus, blättert. Nur die ersten vier Seiten sind beklebt, zuerst mit Bildern aus dem Ferienlager, in dem er mit - Barbara überlegt einen Augenblick - mit zwölf Jahren drei Wochen lang war. Irgendwo an der Küste. Martin mit einem Freund, den er offensichtlich dort gefunden, sie fassen sich gegenseitig um die Schultern und blicken ernst in die Kamera. Ein Gruppenbild, an die fünfzig Kinder, winzige Gesichter, eines ist mit rotem Filzstift umrahmt, Martin. Ein paar Schemen im Dunkeln, Nachtwanderung. Martin mit Fackel, ein verschwommenes undeutliches Gesicht. Wie klein er noch war. Und wie ernst auf allen Bildern. Barbara blättert weiter. Es folgen drei Seiten mit Fotos von seinem 14. Geburtstag, so glaubt sie, sich zu erinnern. Sie sieht Mark und zwei andere Jungs, von denen sie nichts mehr weiß. Beim Topfschlagen, beim Apfelmus-Wettessen mit Gabel, beim Schnappen nach aufgehängten Bonbons. Kleinkinderspiele, die er das letzte Mal, wie er sagte, spielen wollte. An einer Stelle klafft eine Lücke mit lädiertem Untergrund. Es fehlt ein Bild, ist gewaltsam entfernt worden. Damit endet das Album. Die folgenden Seiten sind leer. Gerade, als sie es zurück legen will, findet sie zwischen die letzten beiden Seiten ein Foto geklemmt. Sie, die Mutter, in die Kamera lächelnd, eine etwas unscharfe Aufnahme. Sie kennt das Bild nicht, sieht es lange prüfend an. Es muss fünfsechs Jahre alt sein, sie erinnert sich an den Pullover. Sie hat ihn gerade in die Kleidersammlung gegeben. Damals war er neu. Das Foto war in ihrer alten Wohnstube aufgenommen worden. Sie nimmt es aus dem Album, wendet es. Kein Datum. Aber sie sieht, dass es einst eingeklebt war, später mit Gewalt herausgerissen. Es ist offensichtlich das auf den Geburtstagsseiten fehlende Bild, von ihm selbst aufgenommen. Jetzt erinnert sie sich auch wieder. Er hatte zum Geburtstag diesen Fotoapparat bekommen, nicht sehr teuer, aber für den ersten langt es, hatte Jörg gesagt. Und den ganzen Tag hatte der Junge wie wild fotografiert, am Abend waren beide Filme, die sie dem Apparat beigelegt hatten, verbraucht. Eines dieser Fotos muss das sein, das sie jetzt in der Hand hält. Weshalb hatte er es, nachdem es eingeklebt war, wieder entfernt? So grob entfernt? Wollte er kein Foto seiner Mutter mehr in seinem Album haben? Aber warum nicht? War etwas geschehen? Wenn nur ihr Gedächtnis besser wäre. Bevor Barbara das Album zurücklegt, überprüft sie die Fetzen, die an dem Foto hängen mit denen, die im Album fehlen. Alles passt übereinander. Ja, es ist offensichtlich das fehlende Bild. Sie fühlt sich gekränkt.
Als sie die nächste und letzte Schublade herausziehen will, klingelt es. Der Ton dringt in melodischem Dreiklang durch die Wohnung. Trotzdem schrickt Barbara zusammen. Zögert. Ein zweites Mal erklingt der Ton, nun laut und fordernd, so kommt es ihr vor, obwohl das nur Täuschung sein kann. Langsam geht sie zur Tür, das Bedürfnis unterdrückend, zuerst durch den Türspion zu blicken. Sie hat es nie getan, allein das Wort erschien ihr immer entlarvend. Sie tut es also auch jetzt nicht. Öffnet die Tür.
Vor sich sieht sie eine Gestalt, die einen Blumenstrauß vor das Gesicht hält. Barbara steht in der nur halb geöffneten Tür, schmal, den Raum bei weitem nicht ausfüllend. Ihre Hand zuckt zur Klinke, als hätte sie vor, die Tür schnell wieder zwischen sich und diese Gestalt zu bringen. Sie verharrt in der Bewegung, wie erstarrt.
Der Mensch hinter den Blumen ruft: „Kuckuck" und senkt den Strauß. Sichtbar wird das Antlitz einer jüngeren Frau, die glücklich lächelt.
Barbara wird, wenn das möglich ist, noch blasser. Sie macht sich ein wenig breiter, als könne sie so besser den Eingang verwehren. Das Gesicht der Frau vor ihr dagegen scheint vor Freude gerötet. Überhaupt wirkt sie sehr farbig, fast ein wenig grell. Das Makeup verdeckt das ganze Gesicht, in ihm prangt als besonders bunter Fleck der lilafarbene Mund, der jetzt breit auseinandergezogen ist. Es ist ein sehr großer Mund, der eine Reihe gelblicher, etwas schief sitzender Zähne frei lässt.
„Du wolltest nicht mehr kommen. Hattest es fest versprochen." Aus Barbaras Stimme klingt Entsetzen.
„Willst du mich nicht rein lassen?" Die Frau lächelt noch immer, aber als Barbara sich nicht rührt, schiebt sie sie einfach ungeduldig zur Seite und geht in die Wohnung, über den Flur, in die geräumige Wohnstube.
Barbara steht still an der Tür, endlich schließt sie sie, als koste es viel Kraft. Sie schleicht der Frau nach.
„Es hat sich nichts verändert", sagt die und sieht sich freudig um. „Es ist alles wie vorher. Du kannst dir nicht vorstellen, wie mir das immer gefällt."
Sie legt den Strauß auf den Tisch und läuft los, öffnet sämtliche Türen der Wohnung, sogar die zum Schlafzimmer, läuft kichernd durch die Räume. In Martins Zimmer verharrt sie einen Augenblick. „Puh, wie das hier riecht. War wohl lange nicht da, dein Prinzchen. Soll ich das Fenster - "
„Marlene! Komm sofort aus Martins Zimmer!", schreit Barbara wütend.
Marlene steht einen Augenblick, schließt dann geräuschvoll  die Tür und kommt in die Wohnstube zurück, noch immer lachend. Sie tritt an einen der Schränke, öffnet ihn und nimmt eine Vase heraus. Doch dann sieht sie Barbara plötzlich vorwurfsvoll an: „Du hast immer Lenchen zu mir gesagt."
„Lenchen oder Marlene, das ist gleich. Warum hältst du dich nie an ein Versprechen?"
„Sieh mal." Marlene hat die dunkelroten Astern in der Vase geordnet und zeigt sie vor. „Sind sie nicht schön? Doch, ich halte mich immer an Versprechen. Aber dies ist eine Ausnahme. Das verstehst du. Solche Dinge hast du immer verstanden. Es wird sich wohl nicht geändert haben. Nicht innerhalb eines lumpigen halben Jahres. Genau fünf Monate und 21 Tage haben wir uns nicht gesehen. Unvorstellbar lange nicht."
Barbara hat sich in ihren Sessel gesetzt. Sie glaubt vielleicht, ihr Lieblingssessel könne ihr Schutz gewähren. Vielleicht glaubt sie das, denn ihre Stimme ist tatsächlich etwas sicherer geworden. „An Versprechen muss man sich immer halten. Da gibt es keine Ausnahmen."
Marlene lacht wie ein Kind. „So erkenne ich dich wieder. Die strenge Lehrerin, die wir geliebt und gefürchtet haben."
„Es ist über zwanzig Jahre her, dass du zuletzt in meine Klasse gingst", entgegnet Barbara müde.
„Eben. Und darum komme ich ja. Genau fünfundzwanzig. Silber-, nein -hochzeit kann man wohl nicht sagen. Silberfreundschaft. Ja, Silberfreundschaft."
„Freundschaft", ein müdes Echo.
Marlene stört sich nicht daran. „Erinnerst du dich, wie alles anfing? Als du mich das erste Mal zu einer heißen Schokolade eingeladen hast, vor genau 25 Jahren? Ich habe das Datum nie vergessen. Es war der 12. Oktober, wie heute."
„Der Teufel muss mich geritten haben."
„Weißt du noch, es war nach den Ferien, nachdem du uns unsere Aufsätze wiedergegeben hattest."
Dieser verfluchte Aufsatz, nie hatte sie ihn vergessen können. Aber nun lag er in kleinen Schnipseln im Papierkorb, was ihr eine gewisse Befriedigung verschaffte.