5. Kapitel

(Im Lande der Nacht - Manzao lernt Mina kennen - In Minas Welt - Manzao überzeugt Mina, die Zeitgrenze zu überschreiten - Minas guter Stern)

Auf meiner Flucht aus dem Lande des Lachens kam ich nach monatelangen Irrfahrten am späten Abend in ein warmes Land. Ich war stundenlang gelaufen, seit Tagesanbruch schon, und ich war sehr müde.

Die Nacht erschien mir heller als anderswo, und als ich in eine Stadt kam, war es durch Hunderte von Lampen fast taghell. Es befanden sich viele Menschen auf den Straßen, und das begann, mich trotz meiner lähmenden Müdigkeit zu erstaunen. Die Menschen waren merkwürdig weiß im Gesicht, und mir kam vor, als gingen sie mir aus dem Wege, ja, sie schienen sogar zu erschrecken, und ein paar drohten mir mit der Faust. Doch noch ehe ich viel Zeit hatte, mich über diese Leute zu wundern, wurde ich von zwei gänzlich weißgekleideten und weißhäutigen Männern an den Oberarmen ergriffen und in ein nahestehendes Haus geführt. Mein Protest half mir nicht. Ich wurde sofort zu einem großen, ebenfalls völlig weißen Mann gebracht. Dieser betrachtete mich kritisch, schüttelte dann den Kopf.

"Ein Nachtländer sind Sie nicht."

Ich war erleichtert. Offensichtlich hatte man mich mit irgendjemandem verwechselt.

"Ich bin Manzao", erklärte ich, "und ich komme aus dem Land des Lachens."

"Also kein Nachtländer", stellte der weiße Mann noch einmal befriedigt fest. Dann trat er auf mich zu, begrüßte mich freundlich und hieß mich im Lande der Tagländer willkommen. Wenn ich hierzubleiben gedenke - ich nickte eifrig, denn wo sollte ich jetzt hin - hätte ich die einmalige Chance, ein Weißer zu werden, also ein Tagländer. Es gäbe einiges, worüber ein Fremder sich vielleicht wundere. Denn das Land wäre geteilt und zwar zeitlich. Die Tagländer lebten ausschließlich am Tage, die Nachtländer des Nachts, in den gleichen Häusern, den gleichen Wohnungen, ja, den gleichen Betten. So hätten sie das Problem der Überbevölkerung schon vor Generationen friedlich gelöst.

Verwirrt, aber auch erwartungsvoll folgte ich meinem Führer. Es war einer der Männer, die mich von der Straße geholt hatten. Jetzt war er freundlich und schwatzte, ich solle froh sein, nicht in der Nacht hier angekommen zu sein, denn die Nachtländer wären schwarz und böse, weil das grelle Sonnenlicht sie wild mache. Wie bei dem Oberen sagte ich auch jetzt nichts dagegen. Wer streitet schon gern mit öffentlichen Persönlichkeiten? Ihnen recht zu geben und nur im stillen anderer Meinung zu sein, das hatte ich bereits in meinem Leben gelernt.

Ich wurde von den Vorübergehenden neugierig und etwas feindselig gemustert. Hier wäre es, der Mann zeigte auf ein Haus, Zimmer 3 bc, aber ich könne erst beim Zeichen hinauf, jetzt schliefe dort Elam, und im übrigen dürfe-müsse ich mich von nun an Male nennen, ein echter schöner Tagländername und notwendig, um die Zugehörigkeit zur Wohnung und zum Nachtländer Elam zu erkennen.

"Machs gut, Male", er schlug mir auf die Schulter und ging. Doch nach wenigen Schritten kehrte er kum, streifte mir eine Armbinde mit einem F um. "Damit sie dich nicht gleich wieder einfangen." Und lachend lief er davon.

Ich setzte mich auf eine Bank in der Nähe und betrachtete die Menschen: Viele, die mit Aktentaschen an mir vorbeieilten, Frauen, die ihre Einkaufsbeutel schwenkten, Schulkinder, die auf dem Weg zur Schule Fangen spielten, lärmten, sich stießen oder miteinander tuschelten, alte Frauen und Männer, die, auf ihre Stöcke gestützt, gemächlich spazieren gingen. Und über allem ein klarer Sternenhimmel. Es war elf Uhr nachts.

Ich wurde immer müder trotz des Neuen, das auf mich eindrang, und das mich anfangs wach gehalten hatte. Die Nacht war warm, angenehm warm nach der stickigheißen Luft am Tage, und ich konnte nicht verhindern, daß die warme Luft mir das Schlafen erleichterte. Mein Kopf sank immer öfter auf die Brust, und dann muß ich wohl eingeschlafen sein. Eine leise Frauenstimme weckte mich.

"Sie dürfen hier nicht schlafen."

Als ich meinen Kopf hob, stieß die junge Frau einen erschreckten Ruf aus und sprang einen Schritt zurück. Ich wies auf meine Armbinde. F wie FREMD. Da lächelte sie erleichtert.

"Um diese Zeit darf niemand schlafen", wiederholte sie das Verbot, "weil man sonst nachts nicht schlafen kann."

"Es ist nachts." Die Verdrehung der Tageszeiten erschien mir aus ihrem Munde noch seltsamer.

"Wie können Sie das wissen, wo Sie doch fremd sind."

Sie schüttelte etwas mißbilligend den Kopf, aber sie lächelte noch immer. Während mir die Gesichter der anderen Menschen ungewohnt, ja kränklich, häßlich weiß erschienen waren, leuchtete ihr Gesicht in einem Weiß, das durchsichtig und strahlend zugleich erschien, und ihr Lächeln war auf dem ganzen Gesicht, in den Wangengrübchen, den winzigen Fältchen der Mundwinkel, in den Augen, die das Schönste in ihrem Gesicht waren. Sollte sie doch die Nacht zum Tage machen, das wichtigste für mich war plötzlich, daß sie nicht ging. Ich stand auf.

"Wenn Sie bei mir bleiben, werde ich nicht schlafen."

Ich war jetzt hellwach. Sie zögerte und drehte sich um. Obwohl sie erst einige Augenblicke bei mir war, hatte ich die anderen Menschen völlig vergessen. Jetzt sah ich sie wieder und bemerkte, daß sie alle zu uns herblickten und daß die meisten mißbilligend den Kopf schüttelten. Ich stellte mich zwischen sie und die Leute. Noch immer zögerte sie, aber das Strahlen ihrer Augen, die jetzt auf mich gerichtet waren, schien noch intensiver geworden.

Mina, so hieß die junge Frau, zeigte mir ihre Stadt, wies auf Gemeinschaftsgebäude, Büros und Einrichtungen, die für mich wichtig werden könnten, zeigte Skulpturen, die meist irgendeinen herrlich anzusehenden Weißen darstellten. Doch nichts interessierte mich mehr, ich sah zwar in die gewiesene Richtung, aber meine Gedanken waren nur noch bei ihr. Ich bewunderte ihre zartgliedrigen und doch kräftigen Hände, beobachtete ihre Mundbewegungen, lauschte ihrer Stimme, die weich und singend war, auch wenn sie die gleichgültigsten Dinge sagte.

Als wir durch einen kleinen Park kamen, blieb sie stehen. Das Licht von der Straße drang nur noch gedämpft bis zu uns. Sie wies nach oben und sagte leise, schwärmerisch:

"Aber das ist das Schönste in unserem Land."

Wir standen sehr dicht beieinander, jedoch ohne uns zu berühren.

"Unsere Blumenwiese!"

Der Himmel war weit und klar, die Sterne groß leuchtend, der Mond, eine Sichel nur, strahlte hell und kühl. Es war schön, noch schöner, weil Mina neben mir stand, deren Wärme ich spürte über den Abstand hinweg. Die Luft war so weich, daß ich den leisesten Windhauch wie ein Streicheln empfand, wie ihr Streicheln. Ich wagte nicht zu sprechen, um das Leuchten in ihren Augen nicht zu zerstören. Wir standen lange, doch die Zeit wurde mir nicht lang. Ich sah in ihr Gesicht, das allmählich deutlicher hervortrat - es begann zu dämmern. Ich nahm es in beide Hände, sie sah mich an, und wie einen elektrischen Schlag empfing ich diesen Blick.

Plötzlich erscholl ein lauter Heulton. Erschrecken, ja, Entsetzen verzerrte Minas Gesicht. Sie faßte mich am Arm und rief: "Schnell schnell." Beim Laufen stieß sie hastig hervor: "Wo wohnen Sie?"

Ich konnte nicht nachdenken, mich nicht erinnern, die Gegend war mir völlig fremd.

"Schnellschnell", keuchte Mina wieder.