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Leseprobe:
 

"Ratet mal, was mir gestern passiert ist!" Die laute Stimme kommt von einem der Tische im Café. Sie wird nur etwas dadurch gedämpft, dass die Rufende den Mund voll hat und erst mühselig das große Stück Torte, das sie sich zuvor in den Mund geschoben hatte, zerkauen und hinunter schlucken muss.
Jedes Jahr im Juli startet die kleine Gemeinschaft von Granlund einen Flohmarkt. Schon Wochen zuvor haben sie die zu verkaufenden Dinge zusammen getragen. Sie brauchten nicht in die Häuser zu gehen. Jeder wusste Bescheid. Es kam auch aus jedem Haushalt irgendetwas, Gläser, Schüsseln, Bücher, Zeitschriften, Spiele.
Und so ist der große Tag gekommen, denn es ist stets ein großer Tag. Weil die Leute aus nah und fern, na, nicht aus ganz so fern, zu diesem Ereignis strömen. Denn es gibt immer etwas zu kaufen. Jeder, der will, findet auch irgendetwas. Eine hübsche Kerze, einen Kerzenständer aus Messing dazu, ein paar alte Schnapsgläser, eine alte Sammeltasse. Und wer nichts findet, genießt es, mit anderen zusammen zu sitzen, Kaffee zu trinken, Waffeln zu essen oder die gute Kremtorte von Oddbjörg zu probieren. Der Wintergarten des Saales, der in diesen Stunden zum Café wird, ist immer gut besetzt. An der Luke steht Mary. Die anderen haben frei. Außer Randi, die das Geld für die Waren entgegen nimmt.
Noch einmal hört man: "Nun ratet schon, was mir gestern passiert ist." Nun deutlicher, weil der Kuchen geschluckt ist.
"Dich hat auf der Herfahrt ein Elch geküsst?" Herbjörg kichert bei ihrer Frage.
"Nein - außerdem bin ich schon vorgestern gekommen." Die Frau, die Kari Elise heißt, schüttelt energisch den Kopf.
"Du hast einen Unfall gehabt", schlägt Anna vor.
Kari Elise schüttelt wie genervt den Kopf und sagt fast ärgerlich: "Vorgestern. Ich bin vorgestern gekommen. Gestern war gestern. Also? Was denkt ihr?"
"Nun machs nicht so spannend", murrt Torbjörg, "welche Laus ist dir gestern über die Leber gelaufen?"
Da niemand Anstalten macht, weiter zu raten, verkündet Kari Elise: "Keine Laus, sondern ein handfester alter Mann."
"Ein alter Mann ist dir über die Leber gekrochen - hm. Wie alt?"
"Mindestens zehn Jahre älter als ich. Aber das Alter spielt überhaupt keine Rolle."
"Warum erwähnst du es dann?" Herbjörg schüttelt den Kopf. "Alter Mann", brummt sie, "also gut 60." Herbjörg ist vor kurzem 80 geworden.
"Und was hatte der alte Mann auf deiner Leber zu suchen?", fragt Anna.
Alle lachen, bis auf Kari Elise. Die schweigt erst einmal, dann kommt es wieder von ihr, gerade als Oddbjörg ein anderes Thema anschneiden will. "Seid ihr gar nicht neugierig, was mir passiert ist?"
Es scheint, als hielte sich die Neugier in Grenzen oder die anderen ärgern sich über die Fixenfaxen, wie sie bei derlei sagen.
"Ihr kennt doch das Moor, wo ich immer meine Moltebeeren sammle", fängt nun Kari Elise nach kurzer Pause von selbst wieder an.
"Die sind geklaut worden", kommt es von Oddbjörg.
"Viel schlimmer." Kari Elise hat sich wieder ein großes Stück Torte in den Mund geschaufelt und sagt, Oddbjörg zunickend, "Deine Torte ist wieder sündhaft herrlich." Oddbjörg lächelt geschmeichelt, fragt dann aber nach: "Was ist schlimmer als Diebstahl?"
"Also - ihr kennt das Moor. Da ging schon meine Mutter vor 50 Jahren hin zum Pflücken und ich seit nunmehr 30 Jahren. Mindestens."
"Du hast immer genug damit angegeben", kommt es von Anna.
"Ist ja auch ein guter Platz. Jedes Jahr so viel, dass es gerade für einen reicht, zwei drei Eimer voll, einige Gläser Marmelade. Gerade passend. Und jedes Jahr war was drauf. Das Land gehörte dem alten Eriksen. Meine Mutter hatte ihn damals gefragt, ob sie die Beeren sammeln könne, er hatte nichts dagegen, zumal er selbst nicht mehr in die Mark ging, bekam ja jedes Mal ein Eimerchen ab und ein Glas Marmelade. Damit war er zufrieden." Kari Elise schweigt, schiebt sich das letzte Stück des Kuchens in den Mund, kaut übertrieben langsam.
"Und? Nun machs doch nicht so spannend. Der alte Eriksen ist seit hundert Jahren tot."
"Danach hatte es die Familie mit den drei Kindern gekauft und als Hütte genutzt. Aber als sich der große Junge tot gefahren hatte, sind sie nicht mehr gekommen."
"Was soll denn diese alte Hüttenchronik?", Anna steht verärgert auf. "Ich werde mal Mary ablösen."
Kurz darauf setzt sich Mary zu ihnen. Oddbjörg klärt Mary auf: "Kari Elise ist ein alter Mann über die Leber gekrochen."
"Häh?" macht Mary verständnislos.
Aber Kari Elise fährt schon fort, als hätte es diese Unterbrechung nicht gegeben. "Ihr wisst ja, ich bin jedes Jahr zur Beerensaison hier und pflücke meine Moltebeeren, niemand hat was dagegen gehabt, aber gestern - " Sie macht eine bedeutungsvolle Pause und Herbjörg stöhnt genervt auf, verdreht dabei die Augen.
"Gestern also, das Moor lag vor mir mit seinen orangen leuchtenden Punkten, ich mach mich an die Arbeit, froh wie immer, ich mag diese Beeren so, es macht mir immer solch eine Freude, sie zu sammeln, ihr kennt das ja selbst, also ich habe so ungefähr einen halben Eimer voll, da schau ich auf, weil ich mich plötzlich beobachtet fühle, da steht dieser alte Mann vor mir, gestützt auf einen Stock und beobachtet mich. Wie lange schon, wusste ich nicht. Wenn ich pflücke, dann pflücke ich und gucke nicht in der Gegend rum, ihr kennt das sicher. Also, der steht da und sieht mir beim Pflücken zu. Ich hab ihn höflich gegrüßt, er ein wenig unhöflich genickt. ‚Das ist unser Grund und Boden', hat er dann gesagt. ‚Meine Tochter hat im vorigen Jahr die Hütte dort gekauft', er wies mit der Hand unbestimmt in die Richtung, in der Eriksens Haus liegt, ‚also ist das unser Moor.' Könnt ihr euch so was vorstellen? Kommt daher und erhebt Ansprüche!" Kari Elise schweigt erschöpft von ihrer langen etwas wirren Rede.
"Eigentum ist Eigentum", erklärt Mary bestimmt.
"Ach?", kommt es empört von Kari Elise. "Und was ist mit dem Gewohnheitsrecht? Wenn einer schon 50 Jahre dort pflückt und kein anderer Ansprüche erhebt, ist man da nicht sozusagen Eigentümer? Gilt das nicht sogar schon nach 20 Jahren?"
Darüber entbrennt eine Diskussion. Im Verkaufssaal geht der Verkauf der gebrauchten Dinge unvermindert weiter, als würden hier nicht solch grundlegenden Dinge diskutiert. Und die Fünf kommen auch zu keiner Einigung.
"Und was wirst du jetzt tun?", fragt Oddbjörg neugierig.
"Ich hab schon, war heute wieder dort, aber ohne Eimer, wollte sehen, ob alles weggepflückt war." Sie blickt bedeutungsvoll in die Runde. "Das Moor lag so, wie ich es gestern verlassen hatte. Ich könnte schwören, nicht eine einzige Beere fehlte. Ich bin ja noch eine Weile hier. Jeden Tag werde ich nachsehen, und wenn am Ende nächster Woche keiner die Beeren abpflückt, die meisten sind reif, einige schon überreif - dann werde ich sie mir holen. Alle. Denn verkommen muss man sie ja nicht lassen. Oder? Seid ihr mit mir einig?"
"Beerenkrieg", murmelt Torbjörg.

***

Noralf geht seiner Leidenschaft nach: Landschaftsfotografie. Sie ist nicht kleiner geworden im Laufe der Jahre. Wenn immer sich Zeit findet und das Wetter mitspielt, ist er draußen in der Mark mit Leila, seiner Hündin. Die ist mittlerweile wie ihr Herr auch in die Jahre gekommen, kein Wildfang mehr, sondern ein gut erzogener Hund. Gerade hat Noralf ein schönes Motiv entdeckt, zwischen zwei hochgewachsenen Birken, genau in der Mitte war der Breitinden zu sehen, der höchste Berg der Insel. Die Sonne bescheint die letzten Schneeflecken auf dem Gipfel. Wunderschön sieht das aus, findet Noralf. Störend ist nur das Gebell von Leila. Wie wild kläfft sie. Was ist nur in den Köter gefahren, flucht Noralf und schreit: "Leila! Komm her! Bei Fuß!" Aber der Hund hört nicht, lässt sich in seinem Gebell nicht stören.
"Verdammtes Vieh!", schreit das Herrchen und stapft durch das Dickicht dorthin, wo er den Hund hört. Das Foto hat er nicht gemacht, was ihn besonders ärgert.
Leila steht am Rande eines Moores, das gesprenkelt ist mit goldgelben Punkten. Noralf lacht. Moltebeeren. Die Kultbeere der Nordnorweger und keiner da zum Pflücken. Er macht sich nichts draus. Dann bist du kein richtiger Norweger, hatte einmal ein Freund diesbezüglich zu ihm gesagt. Wenn er das fotografieren, ins Internet stellen und die Leute raten lassen würde, wo das wäre, und dazu schreiben, dass es offenbar niemanden gäbe, der das Moor abernten wolle - Noralf lacht vergnügt, er hat Leila vollständig vergessen. Die Leute würden in Scharen nach diesem Platz suchen, sich dafür die Köpfe einschlagen.
Der Hund kommt mit seinem Gebell wieder in seines Herrchens Bewusstsein. Der drückt noch schnell auf den Auslöser, bevor er es wieder vergisst und wendet sich dem Gebell zu. Leila steht mit allen vier Beinen über einer liegenden Gestalt.
Noralf brüllt erschrocken: "Leila! Bei Fuß!" Diesmal gehorcht der Hund, wenn auch offensichtlich widerstrebend.
Noralf geht näher, dicht gefolgt von seinem winselnden Hund. Da liegt tatsächlich jemand. Sieht aus wie eine Frau, obwohl kaum an der Kleidung zu erkennen. Stiefel, derbe Hosen, Anorak. Neben der Liegenden, etwa zwei Meter entfernt steht ein Eimer, vermutlich voller Beeren. Noralf geht näher. Schläft die Frau? Noch näher. Doch springt er erschrocken zurück, als er den Kopf der Liegenden sieht. Der liegt in einer Blutlache und ist offenbar eingeschlagen worden. Flucht, ist das Erste, was Noralf denkt, aber nach nur wenigen Schritten kehrt er zurück. Legt zögernd einen Finger an den Hals der Frau. Da spürt er nichts. Die Frau ist so tot wie sie aussieht. Und erst jetzt erkennt er sie. Kari Elise. Kari Elise, mit der er die ersten Jahre zur Schule gegangen ist. Kari Elise, die mit ihren Eltern und ihrem Bruder 500 Meter entfernt von ihm gewohnt hatte. Kari Elise, die... Noralf zögert, überlegt, dann macht er ein paar Fotos, eine von Kari Elise in Nahaufnahme, ein paar aus verschiedenen Winkeln immer mit dem Moltebeerenfeld im Hinter- bzw. Vordergrund. Der Schrecken ist ihm vergangen, auch wenn es ihn graust beim Anblick der Erschlagenen. Vor allem, weil er sie kannte. Fast vierzig Jahre gekannt hatte, dann war sie weg gezogen. Er hat sie seitdem selten gesehen, obwohl er hörte, sie wäre zur Beerenzeit immer gekommen. Er macht sich, wie gesagt, nicht viel aus Beeren. Außer Himbeeren, die direkt vor seinem Haus wachsen. Aber sonst keine. Er hatte keine Anknüpfungspunkte mit ihr. Nicht mehr. Er will jetzt nicht an die Vergangenheit denken. Er findet es gruslig, aber auch ungeheuer spannend, dass ausgerechnet er Kari Elise gefunden hat. Eine Tote im Moor, erschlagen. Aus Gier auf die Beeren? Wäre er ein Krimiautor hätte er einen Titel "Der Moltebeerenmord"". Allerdings ist der Eimer halb gefüllt, also nicht ausgeräumt. Natürlich muss er die Polizei informieren, aber darf er die Bilder vorher ins Internet stellen? Gäbe es da Ärger? Und wenn schon. Er muss ja nicht gewusst haben, dass so was verboten ist, wenn es das überhaupt ist.
Noralf pfeift seinem Hund und beeilt sich, nach Hause zu kommen.

***