Wie ich in die Schule kam

 

Ich heiße Paul, aber alle sagen nur Pollo zu mir und ich habe noch drei Geschwister: die Nanni, die Ela und Kiki. Nanni ist die Älteste und Kiki ist mein einziger Bruder. Aber den kann ich meist nicht leiden. Wenn er morgens aus seinem Zimmer kommt, schneidet er mir gleich eine Fratze. Wenn ich ihm dann die Zunge herausstrecke, heißt es immer, ich hätte angefangen. So geht es schon früh lebhaft bei uns zu. Aber wenn wir unsere Suppe essen, ist es ganz still. Nur Ela schlürft laut, weil sie nicht so heiß essen kann oder weil es ihr so gut schmeckt oder weil die Suppe zu dünn ist. Sie sagt immer was anderes.
Mutti sitzt dabei und schmiert die Stullen, so nennt man bei uns das Schulbrot, dabei fragt sie noch was zur Schule oder sie ermahnt uns:
"Passt schön auf!"
"Meldet euch!"
"Seid fleißig!"
Meist hören wir gar nicht mehr hin. Aber wir nicken immer. Und dann freut sie sich.
 
So geht es jeden Tag, wenn Schule ist. Gestern sind unsere großen Ferien zu Ende gegangen. Heute war also der erste Schultag und gleich fing der Stress wieder an. Weil wir es alle so eilig hatten und weil ich vergessen hatte, meine Mappe zu packen. Dadurch wurde alles noch eiliger.
 
Der erste Schultag ist immer was besonderes, das weiß jeder. Man muss sich daran gewöhnen in eine neue Klasse zu gehen und auf den Heften darf man sich nicht verschreiben, sonst sieht es gleich unordentlich aus. Dann ist der erste Ärger da. Außerdem kann man andere Lehrer bekommen, vielleicht sogar einen neuen Schüler in die Klasse. Und man sieht alle wieder. Bei manchen kann ich zwar drauf verzichten. Aber auf Toni freu ich mich. Der ist mein Freund, doch wir sehen uns nur selten in den Ferien, weil er immer bei seiner Oma ist.
Ela und Kiki fahren jetzt mit dem Fahrrad zur Schule. Sonst sind Kiki und ich in die Schule nebenan gegangen, ab heute fährt er wie Ela mit dem Fahrrad in die nahe Stadt. Seine neue Schule heißt Gymnasium.
 
Dass ich den ersten Tag allein gehen musste, gefiel mir gar nicht, aber was blieb mir anderes übrig. Weil es nun schon ziemlich spät war, rannte ich los, nahm gleich die Abkürzung durch die Gärten. Doch plötzlich, ich weiß nicht warum, lag ich auf der Nase und die fing sofort zu bluten an. Also musste ich erst einmal auf dem Rücken liegen bleiben. Dicht am Rand lag ich, damit ich niemandem den Weg versperrte. Aber es kam keiner mehr vorbei, dem ich den Weg hätte versperren können. Ich wurde ganz nervös. Als ich endlich aufstehen konnte, war‘s zu spät. Ich sah keinen Menschen, jedenfalls kein Kind. Nicht auf dem restlichen Weg zur Schule, nicht auf dem Schulhof. Zuspät kommen ist schon grässlich genug, und dann noch am ersten Schultag. In welchen Raum musste ich jetzt? Am liebsten wäre ich wieder umgekehrt. Wenn ich mir wenigstens ein Bein so ein kleines bisschen gebrochen hätte, wenigstens einen Zeh. Aber ich war bloß schmutzig und ich konnte mein Bein noch so schlenkern, da tat überhaupt nichts weh. Ob ich auf die Pause warten sollte?
Am anderen Ende vom Schulhof sah ich dann doch jemanden stehen. Eine ganze Familie. Einen Mann, eine Frau und vier kleine Kinder, die ganz brav alle zusammenstanden. Kamen mir irgendwie komisch vor. Als der Mann mir winkte, wusste ich nicht, ob ich es wagen konnte, hinzugehen. Aber was sollte mir hier auf meinem Schulhof schon passieren? Ich ging also rüber und sah erst beim Näherkommen, dass es Ausländer waren. Sie sahen fremd aus, ein bisschen braun. Der Mann sagte etwas, das ich nicht verstand. Dann wies er auf eins der Kinder und hielt einen Zettel hoch, da stand drauf: Goetheschule, 2. Klasse.
Der Knirps sollte in die zweite Klasse kommen? Doch plötzlich hatte ich eine Idee. Wenn der in meine Klasse kam, war ich fein raus. Dann würden alle nur auf den gucken und ich wäre vergessen. Also nickte ich dem Mann gönnerhaft zu, fasste den Jungen am Arm und sagte: "Komm."
Der Junge blickte sich zu den anderen um. Die Mutter war still, nur der Vater sagte wieder was und nickte mehrere Male. Da ging der Junge mit. Er war sehr dünn und noch einen Kopf kleiner als ich, obwohl ich beim Sport immer an viertletzter Stelle stehe.
Ich zeigte auf meinen Bauch und sagte: "Pollo", tippte dann auf seinen. Ohne zu lächeln entgegnete er, so leise, dass ich es kaum verstand: "Aladar."
Komischer Name, dachte ich, hört sich an wie Aladin. Ob er eine Wunderlampe hat?
 
Jetzt brauchte ich auch vor Frau Schlosser, unserer Schulsekretärin, keine Angst zu haben, denn jetzt hatte ich eine Aufgabe. Frau Schlosser sah mich zwar über ihre Brille hinweg streng an, erklärte dann aber, in welchen Raum wir zu gehen hätten.
 
Vor dem Klassenzimmer lauschte ich erst einmal. Aladar stand ziemlich unbeteiligt neben mir. Ob er Angst hatte? Ich hatte jedenfalls welche, denn ich hörte Frau Kraft schimpfen. Schon in der ersten Stunde, das konnte ja heiter werden.
Ich klopfte und schob dann schnell Aladar als Ersten in die Klasse. Es war, wie ich gedacht hatte. Um mich kümmerte sich kaum einer. Ich setzte mich schnell zu Toni, der den Platz neben sich freigehalten hatte.
 
Naja, das war dann fast das einzig richtig Interessante des ersten Schultages. An neuem gibt es noch, dass wir einen anderen Sportlehrer bekommen haben. Der sieht schon sehr sportlich aus in seinem knallroten Trainingsanzug. Ob er verstehen wird, dass jemand auch nicht sportlich sein kann? Mit dem werde ich bestimmt bald Ärger bekommen. Neu ist auch, dass wir in diesem Jahr schwimmen lernen. Dann kann ich endlich mit meinen Geschwistern mit zum Kiesloch oder im Winter in die Schwimmhalle. Ich freu mich schon drauf.
Das Schönste vom ersten Schultag sind jedoch die neuen Bücher. Die fasst man zuerst ganz ehrfürchtig an, später schmeißt man sie in die Ecke, wenn man was nicht versteht. Das darf nur kein Erwachsener sehen, meine Mutter schon gar nicht. Aber jetzt sind sie ganz neu und glänzend, die meisten jedenfalls, und ich hörte kaum auf das, was Frau Kraft erzählte, weil ich mir vor allem das Lesebuch genau ansehen musste. Da bekam ich gleich meinen ersten Anpfiff weg. Geht gut los, die Schule.

 

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