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Der Wald brennt
 
Heute ist ein heißer Frühsommertag. Hitze flimmert über der wie ausgestorben liegenden Dorfstraße. Es ist still und selbst die Hunde, die sonst immer etwas zu bellen haben, liegen träge im Schatten der Bäume.
Doch plötzlich stört etwas diesen Frieden. Es rennt einer die Dorfstraße herunter, wirbelt Staub auf, dort wo Sand die Steine bedeckt. Läuft und hetzt die Straße entlang. So schnell wie jetzt ist Dirk wohl in seinem ganzen Leben noch nicht gelaufen. Aber es ist auch nötig. Denn der Wald brennt und er muss ihn retten. Es ist sein Wald, wo er im Sommer Beeren und im Herbst Pilze sucht, wo er sich verkriecht, wenn er allein sein will, und wo er mit der Klasse zusammen Kiefern gepflanzt hat.
Dirk rast zur Telefonzelle, springt gleich durch die Tür, die schon lange keine Füllung mehr hat, nimmt den Hörer ab. Welche Nummer hat nur die Feuerwehr? Verzweifelt suchend sieht er sich um. Kein Telefonbuch. Aber er findet die Zahlen dann doch auf einem angenagelten Schild. Polizei. Feuerwehr. Erste Hilfe. Schnell wählt er die 112. Nichts geschieht. Kein Ton klingt aus der Leitung. Der Apparat ist defekt wie so oft. Wo soll er nun hin? Noch immer ist kein Mensch zu sehen. Das ganze Dorf scheint ausgestorben oder die Leute haben sich vor der Hitze versteckt. Nach Hause kann er nicht und die nächste Zelle befindet sich an der Chaussee, einen halben Kilometer entfernt. Dirk steht unschlüssig, doch wird ihm heiß, wenn er an seinen Wald denkt. Da beginnt er wieder zu laufen – im gleichen Moment erklingt die Sirene. Langgezogen und schrecklich, wie seine Oma immer sagt. Für ihn hat sie nichts Erschreckendes, für ihn war es schon immer der Ruf, der ihn zum Spritzenhaus laufen ließ, so wie alle Kinder der Umgebung. Auch jetzt rennt er los. Noch heult die Sirene, daneben ist das leisere Jaulen der Dorfhunde zu hören. Da ist die tiefe Stimme von Bello, dem großen Fleischerhund, das hochgezogene Fiepen Astors, dem Spitz des Bürgermeisters. Das Dorf ist mit einem Schlag erwacht.
Am Spritzenhaus ist er nicht der Erste, einige aufgeregte Kinder stehen bereits herum, auf ihre Roller und Fahrräder gestützt. Von den Feuerwehrleuten noch keine Spur. Doch mit dem letzten Seufzer der Sirene vermischt sich der kreischende Motor eines Mopeds. Otto Kegel, der Bierfahrer, wirft fast das Moped um, als er herunterspringt. Schnell schließt er das Tor auf, im gleichen Moment kommen der Sohn des Bäckers, Kalli Winkelhaar, und auch Manne Hoppe in ihren Autos angesaust.
Dirk fragt, er muss zweimal ansetzen, weil seine Stimme wie ausgetrocknet ist: „Wo brennt’s denn?“
„Im Wald, hinter der Kiesgrube.“
Keine zwei Minuten später kommt die Feuerwehr mit schrillem Klingeln aus dem Spritzenhaus gefahren. Die Männer sind in Uniform. Otto Kegel sitzt am Steuer und rückt sich mit einer Hand noch den Kragen zurecht. Manne schnallt sich den Helm auf. Der Junge ist beruhigt und beunruhigt zugleich. Er muss nun nichts mehr unternehmen, aber die Gefahr von seinem Wald ist noch nicht abgewendet. Hoffentlich kommen die Männer zurecht.
Wer mag sie alarmiert haben? Benno? Natürlich, der hatte ja ein Handy. Dass Dirk daran nicht gleich gedacht hatte. Sicher war es Benno gewesen.
Diese Überlegung hält Dirk nicht davon ab, wieder loszulaufen. Denn er muss zurück zum Brand. Er muss sehen, wie viel zu retten ist von seinem Wald.
Er rennt hinter der Feuerwehr her, so schnell er kann. Die Umwege, die das Auto fahren muss, braucht er nicht zu laufen. Er weiß ja, wo es brennt. Also flitzt er gleich über den Kirchplatz, durch den Friedhof, springt über die Mauer, um einige Meter Weg zu sparen.
Als Dirk am Waldrand anlangt, kann er nicht viel erkennen. Dichter Rauch verdeckt die Sicht. Es stehen bereits viele Leute ein wenig abseits. Männer, Frauen, Kinder. Das halbe Dorf ist zusammengelaufen und tauscht Meinungen über die Ursache des Brandes aus.
„Wenn man bloß mal die Schuldigen erwischen würde“, schimpft Frau Winter, die Verkäuferin aus dem kleinen Lebensmittelladen.
„Ja, mit eigenen Händen müssten sie allen Schaden beseitigen“, ruft zornig Dietmar Meier, der Hausmeister der Schule.
„Eine Schweinerei ist das. Riesenverluste für uns alle“, meint Bertold Wust, der Schweißer aus dem Traktorenwerk, das in der Kreisstadt liegt.
Dirk achtet nicht auf die Stimmen. Gebannt sieht er den Feuerwehrmännern zu. Plötzlich hört er seinen Namen.
“Da ist er ja, der Rose“, schreit Albert Schulz, der so viel Zeit hat, seit er Rente bekommt, dass er immer dort auftaucht, wo ihn keiner vermutet. „Den hab ich vorhin hier rumspazieren gesehen, mit ‘ner Zigarette im Mund. Der hat den Wald angesteckt!“
Der Junge steht wie angenagelt und starrt den alten Mann an. Von allen Seiten schwirrt es nun auf ihn ein.
„Na klar, der Rose. Wer sonst?“
„Immer der gleiche.“
„Aber jetzt ist sein Maß endlich voll.“
“Haltet ihn fest, damit er nicht wegläuft!“
Aber Dirk rennt schon. Er hat das Gefühl, als wären seine Beine aus Gummi, so viel ist er bereits gelaufen. Trotzdem ist er schneller als seine Verfolger. Es wäre ja auch gelacht, wenn es anders wäre. Beim Tausendmeterlauf in der Schule ist er immer der Erste. Aber Dirk ist nicht zum Lachen zumute. Er rennt.
Wohin soll er? Es erscheint ihm alles gleich aussichtslos. Wenn er jetzt seinen Wald hätte. Aber den hat er nicht. Der brennt und da stehen die Leute, die ihn fangen wollen. Zu Hause finden sie ihn gleich. Weg muss er, ganz weit weg. Im Galopp läuft er durchs Dorf. Es ist keiner da, der ihn aufhalten will, keiner, der ihn aufhalten kann. Der Ort liegt wieder wie ausgestorben, als wäre in der Zwischenzeit nichts Wesentliches geschehen. Er kommt an Gärten und Lauben vorbei, am Bullenstall und an der Geflügelfarm. Fast am Ende des Dorfes steht des alten Oskar Lüddes Haus, fünfzig Meter dahinter sein Holz- und Geräteschuppen. Dirk rennt daran vorbei, schlägt einen großen Bogen und kommt so von hinten an den Schuppen. Vorsichtig sieht er sich nach allen Seiten um. Auf der einen Seite ist der Kanal, auf der anderen Lüddes Haus, dahinter die Dorfstraße, rechts ist ein kleines Feld, links der Garten mit Häuschen von denen aus Berlin, die nur am Wochenende auftauchen. Nirgends ein Mensch. Der Junge schlüpft in den Schuppen.

Benno sucht Dirk

Dirk ist noch nicht lange im Schuppen verschwunden, da taucht Benno auf. Benno König, Dirks Klassenkamerad und Freund. Wie ein Hund wittert er, zwanzig Meter von Dirk entfernt, läuft den Weg am Kanal entlang. Guckt unter die Büsche, unter die herabhängenden Weidenäste, ruft halblaut Dirks Namen. Entfernt sich immer weiter vom Holzstall, sucht Dirk nur am Kanal, wo der sonst so oft ist. Am Kanal oder im Wald. Im Wald kann er nicht sein; der Wald brennt. Warum nur war Dirk so feige gewesen, wegzulaufen, als er das Feuer gesehen hat? Er ist doch sonst nicht feige. Und überhaupt –
Benno ist auch weg gerannt vor Schreck, aber dann hat er die Feuerwehr angerufen und ist gleich wieder zum Wald zurück. Dort hat er sich versteckt. Er hat gesehen, wie die Leute sich zusammen fanden, wie Dirk zurück kam. Er hatte sich bemerkbar machen wollen, aber Dirk war einfach an ihm vorbeigelaufen, ohne ihn zu sehen.
„Dirk“, ruft Benno, “wo steckst du?“
Kein Dirk meldet sich. Benno kommen die Tränen. Dirk würde bestimmt nicht heulen, denkt er, zornig auf sich selbst. Ihn hat er noch nie weinen gesehen. Aber diesmal war er doch feige gewesen. Warum ist er bloß weggelaufen, als es brannte und jetzt wieder?
Nun rinnen Benno die Tränen herunter. Er setzt sich ins Gras und starrt aufs Wasser, das ganz ruhig ist, spiegelglatt. Nur die Insekten setzen Punkte auf den Wasserspiegel und hin und wieder ein Fisch, der nach den Fliegen schnappt.
Benno starrt aufs Wasser, da wird plötzlich aus dem Kanal der Ozean. Er ist wild und beutelt das Schiff mächtig, auf dem er und Dirk sich befinden. Sie haben sich als Schiffsjungen anheuern lassen, wohin, ist egal, die erste Fahrt geht über den Atlantik. Breitbeinig stehen sie an der Reling und spucken vergnügt in die tobende See. Das war das Abenteuer, das sie so lange erträumt hatten, das sie von allen Problemen befreien würde. Benno schüttelt den Kopf. Ja, früher, das hat er oft genug gelesen, da sind die Jungs, wenn es ihnen zu Hause nicht mehr gefiel, ausgerissen, haben sich zum Hamburger Hafen durchgeschlagen und sind als Schiffsjungen nach Amerika gegangen oder als blinde Passagiere. Aber das kommt alles nur in Büchern vor, die Wirklichkeit ist anders, ganz anders –
Wo Dirk nur stecken mochte? Der hatte oft schon davon geträumt, wegzugehen, dahin, wo ihn niemand kannte. Und Benno hatte mitgehen wollen. Vielleicht fand er ihn noch auf der Landstraße?!
Das denken und aufspringen ist eins. Benno läuft schnell den Weg am Kanal zurück. Er muss Dirk finden. Dann geht er mit ihm mit. Seine Eltern werden ihn sowieso nicht vermissen.
Als er an Lüddes Grundstück vorbei kommt, hört er plötzlich ein Geräusch, das ihn stoppen lässt. Auf der Stelle. Es klingt wie das Fiepen eines jungen Hundes. Dirks Zeichen. Benno sieht sich um. Überallhin sieht er, aber von Dirk keine Spur. Trotzdem kommt da erneut dieses Fiepen. Die Tür des Holzstalles öffnet sich ein wenig und Benno sieht eine Hand, die ihm winkt.
Dirk ist im Holzstall, aber wie soll er, Benno, dort hinkommen? Er kann doch nicht einfach in den Garten eines Fremden spazieren. Benno betrachtet den Zaun. Kein Loch – und die Tür ist verschlossen. Er kann doch nicht einfach... Aber Dirk konnte auch. Und nun winkt der schon wieder, etwas ungeduldig, wie es Benno scheint. Also muss er hinein in Lüddes Garten, über den Zaun und dann schnell auf dem Weg bis zum Stall.
Dirks ungeduldige Hand zieht ihn hinein. Benno kann erst gar nichts sehen, so finster ist es im Schuppen, er hört nur Dirks ärgerliches Flüstern: „Eh’ du so kommst.“
Erst allmählich gewöhnen sich Bennos Augen an das wenige Licht. Nur Gerümpel ist im Stall und ein paar Stöße ordentlich gestapeltes Holz. Daneben ein Hackklotz, auf dem Dirk fröhlich sitzt und ihn angrinst.

 

Fragen?