Zurück

 
Leseprobe:
 
 
Verlorene Spuren

Erich ist Buchhändler. Buchhändler mit Leib und Seele schon seit fast dreißig Jahren. Und seit fast dreißig Jahren sitzt er in seinem Buchladen, oft noch bis spät in die Nacht, niemand wartet zu Hause auf ihn. Er lebt allein, lebt nur mit seinen Büchern, auch in seiner kleinen Wohnung. Tagsüber sitzt er am Computer, arbeitet sich durch Kataloge, sortiert Bücher, blät-tert in Neuerscheinungen, liest sich oft fest, blickt ab und zu auf die Straße. Eine verkehrsrei-che Hauptstraße, viele Leute eilen vorbei. Manchmal kommt jemand in Erichs Laden, dann läutet die Glocke, als würden Schweizer Kühe vorbeigrasen.
Erich empfiehlt Bücher, auch, wenn es nicht erwartet wird, kommt auf ruhige Art ins Ge-spräch mit den Eingetretenen. Es gibt Eilige, die nur eine Bestellung abgeben und den Laden gleich darauf wieder verlassen, und es gibt die anderen, die ausgelegte Bücher in die Hand nehmen, darin blättern, ein wenig lesen. Manchmal schlendert der eine oder andere durch die Gänge, greift nach einem Buch, liest und liest, bis er auf der letzten Seite angekommen ist. Erich hat nichts dagegen, nein, er liebt es sogar, wenn sich jemand lange Zeit in seinem Laden aufhält, und wenn derjenige liest, also vielleicht nicht gestört werden will, verhält sich Erich ganz still, nur das Rascheln der umgeblätterten Seiten ist dann zu hören. Fast nur das.
Leider ist das Vergangenheit. Es kommt immer seltener jemand, der in Büchern blättert, sich gar festliest. Wer auch immer hereinkommt, bringt einen konkreten Wunsch vor und wenn das Buch nicht vorrätig ist, wird es bestellt, und der Kunde verlässt sofort wieder den Laden. Aber welche Wünsche! Essen, ohne dick zu werden. Hausapotheke Natur. Der Waage-Mensch. Und so weiter und so weiter. Wirkliche Leser, wie Erich sie versteht, scheinen nach und nach auszusterben. Doch sobald die Ladenglocke läutet, sieht Erich immer wieder voller Hoffnung auf den Eintretenden. Aber schon an den Bewegungen, dem unruhig suchenden Umherblicken erkennt er, dass seine Hoffnung wieder vergebens ist.
Erich wird zunehmend trauriger, verkriecht sich in seine Lektüre und behandelt die Herein-kommenden gleichgültig, ja zunehmend herablassender. Die Kunden, die für ihn keine sind, kommen trotzdem, verlangen ihre Gesundheits-, Horoskop- oder Rätselbücher.
Eines schönen Montags, nachdem er den ganzen Sonntag über nachgedacht hat, beginnt er das Ersonnene in die Tat umzusetzen. Erichs Laden ist verhältnismäßig groß, seit jeher jedoch vollgestellt mit Regalen und Tischen, so dass nicht viel Platz zum Laufen bleibt. Trotzdem erscheint ihm gerade dieser Umstand als günstig für sein Vorhaben.
Erich legt Spuren. Beginnt mit einer Klassikerspur, entfernt wie immer die geschweißten Plas-tikhüllen und legt, beginnend mit den alten Griechen, Bücher griffbereit auf Tische und Re-gale quer durch den Laden, es folgen Franzosen, Engländer, Spanier, zuletzt verbleiben die Deutschen. Genau vor seinem Verkaufstisch endet die erste Spur mit einer Taschenbuchaus-gabe des Werther. Der Kreis ist geschlossen. Obwohl noch kein Kunde dieser Spur nachge-gangen ist, legt er am Dienstag eine neue, die der Nobelpreisträger. Am Mittwoch eine kurze für lateinamerikanische Literatur, eine für die neuen Deutschen, eine größere der klassischen Kriminalliteratur. Er will seine Käufer dazu verführen, einer seiner Spuren zu folgen bis zur Kasse. Er will nicht nur verkaufen, er will die richtigen Bücher verkaufen. Die zum Lesen, zum Träumen, zum Die-Welt-Vergessen. Manchmal legt er eine Falle, da findet sich plötzlich neben den Nobelpreisträgern ein Band Courth-Mahler oder unter den deutschen Klassikern ein amerikanischer Horrorband. Sehr sorgfältig hat er all diese Spuren quer durch den Laden gelegt, mit viel Freude an den schönen Büchern. Sie gleichen dem Ariadnefaden, der den Ausweg aus dem Labyrinth der nicht lesenswerten Bücher weist.
Und nun wartet er wie eine Spinne im Netz auf Kunden, die diesen Spuren zu folgen vermö-gen. Seine Aufmerksamkeit gehört jetzt noch mehr als zuvor den Unentschlossenen, den Blät-terern. Selten kommen sie, sehr selten. Wenn jemand eine seiner Spuren entdeckt zu haben und ihr zu folgen scheint, lässt Erich ihn nicht mehr aus den Augen. Tappt derjenige jedoch in eine der ausgelegten Fallen, greift, nachdem er ein Buch von Thomas Mann in der Hand hatte, nach dem Trivialband, ist Erich enttäuscht bis zum physischen Schmerz und er entzieht dem gänzlich seine Aufmerksamkeit. Solch ein Missgriff scheint ihm noch verdorbener als all die Wünsche nach den Nichtlesebüchern.
Eines Tages, er hat schon fast all seine Hoffnung verloren, betritt eine Frau den Laden. Sie nickt ihm nur zu. Erich achtet nicht sonderlich auf sie, kaum dass er von seinen Rechnungen hochblickt. Die Frau beginnt, durch den Raum zu schlendern. Zuerst folgt sie fast traumwand-lerisch der Spur der Klassiker, greift hier nach einem Band, dort, liest ein paar Seiten, greift nach dem nächsten. Erich wird aufmerksam. Dort, wo sich die Klassikerspur kreuzt mit der der amerikanischen Moderne folgt sie der neuen, die ausgelegten Fallen missachtend. Sie scheint alle Zeit der Welt zu haben, liest manchmal seitenweise in einem Buch, bevor sie zum nächsten greift. Erich lässt sie nicht mehr aus den Augen, verfolgt jede ihrer anmutigen Bewe-gungen, betrachtet die kräftig-schönen Hände, in denen jedes einzelne Buch wie ein eigenes Kunstwerk zu ruhen scheint. Wie früher verhält er sich ganz still und fleht eine unbekannte Gottheit an, wenn sich seine Leserin einer Falle nähert. Aber sie greift nur nach den unsichtbar gezeichneten Büchern, sicher der vorgegebenen Spur folgend. Wie lange hat Erich keine Frau mehr angesehen, wirklich angesehen. Diese hier, die ihm schon so vertraut ist nach den weni-gen Minuten, hat lieblich zarte Gesichtszüge, erscheint ihm freundlich, sympathisch, und wie angenehm muss erst ihre Stimme klingen, wenn sie einen seiner Schätze kaufen wird. Er sieht sie sogar für einen Augenblick zu Hause in seinem Lieblingssessel sitzen, ein Glas mit Rotwein in der Hand. In seinem Lieblingssessel! Und im Hintergrund die Bücher.
Endlich steht sie vor dem Ladentisch, vielleicht sogar ungewollt. Sie hält noch das letzte Buch in der Hand. Erich sieht sie schweigend an, bewundert ihre schönen Augen, möchte der jun-gen Frau seinen Laden zu Füßen legen, ihr sämtliche Bücher, die sie berührt, schenken, so glücklich ist er. Er wird sie einladen, den Abend mit ihm zu verbringen, vielleicht sogar wird er sie fragen - . Jeden Tag soll sie mit ihren Fingern, die wie zum Seitenumblättern geschaffen scheinen, in seinen wertvollsten Büchern blättern dürfen.
Die Frau sieht sich noch einmal suchend um, fragt dann: "Haben Sie das Buch, essen ohne dick zu werden? Ich habe es bei meiner Suche nicht gefunden."
Erich kann nichts sagen, schüttelt nur stumm den Kopf. Als die dicke schon etwas ältere Frau mit dem leicht aufgeschwemmten Gesicht endlich das Buch zurücklegt und den Laden verlässt, steht er lange Zeit wie erstarrt. Doch dann geht auch er zur Tür, öffnet sie, die Glo-cke, die die Kunden seit jeher an Schweizer Kühe erinnert, läutet, und dann noch einmal, als er seine Ladentür leise hinter sich zuzieht. Er schließt sie sorgfältig ab, legt den Schlüssel auf die Treppe, geht die Hauptstraße bis zum Ende und weiter durch Nebenstraßen. Dort verliert sich seine Spur.

***