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Ich bin noch immer völlig durcheinander, begreife einfach nicht, dass er Selbstmord begangen haben kann. Es ist völlig unmöglich. Ich begreif es einfach nicht. Tagelang war ich wie vor den Kopf geschlagen, konnte nicht schlafen. Dann kam ich auf die Idee, seine Geschichte aufzuschreiben, es lenkte mich ab und ich finde, eine derartige Würdigung, das klingt doch besser als Hommage, hat er verdient. Egil war nicht nur anders als die meisten anderen Einwohner, er war auch so etwas wie mein Freund. Obwohl – Egil hatte keine Freunde. So wenig wie ich. Aber wenn er überhaupt einen hatte, dann mich. Und ich ihn. Mit mir sprach er über so manches, nicht nur über Physik und Rätsel. Mit mir philosophierte er sozusagen, über die Menschheit, über die Vergänglichkeit, über Verfehlungen. Eben praktische Philosophie. Lag es daran, dass wir im gleichen Alter waren, in der Kindheit in die gleiche Klasse gegangen waren? Oder daran, dass ich ihn bewundert hatte, mein Leben lang, vielleicht sogar in ihn verliebt war? Während alle anderen sich eher über ihn lustig gemacht hatten, war er für mich immer eine Art von Vorbild gewesen. Und für ihn war wohl das Wichtigste, dass ich zuhören konnte. Ich habe selbst selten etwas bei unseren Gesprächen beigesteuert, ich hörte zu. Egal, worüber er sich ausließ.
Und nun hat er einen Zettel geschrieben und seine Sachen auf den Kai gelegt. Weshalb nicht auch den Ring, den er nie absetzte? Oder er hätte ihn wenigstens auf den Küchentisch legen können, der war doch wertvoll. Reines Gold. Der Siegelring seines Vaters, der keinem seiner Geschwister gepasst hat, nur dem Jüngsten, Egil. Er hatte ihn schon zu Lebzeiten des Vaters zugesprochen bekommen. Alle anderen waren wohl neidisch gewesen auf diesen Ring. Der älteste der Brüder war schon in jungen Jahren nach Amerika gegangen und dort verschollen, niemals hat mehr einer was von ihm gehört, der zweite ist gestorben, vor ein paar Jahren. Jetzt waren es nur noch Evald und Egil. Und jetzt ist es nur noch Evald. Er hätte den Ring für Evald hinlegen können, wusste er doch, dass der ihn immer hatte haben wollen. Oder - er hätte ihn auch mir schenken können, schließlich waren wir Freunde.
Er war schon merkwürdig, unser Egil. Der Jemand, der die Wahrsagerinnen befragt hat, war natürlich ich gewesen. In meiner Verwirrung über sein Verschwinden sollten mir die Wahrsagerinnen Klarheit bringen. Hat ja leider nichts genutzt. Auch die können sich mal irren.
 
 
Doch plötzlich hat sich alles verändert. Man hat Egil gefunden. Ein Zufallsfund. Etliche Kilometer von unserem Kai entfernt, ist er in der Bucht von Laukvik angeschwemmt worden. Ein Kind auf der Suche nach Muscheln hat ihn gefunden, einen toten Menschen. Egil. Was bis dahin noch keiner wusste. Ich stelle mir vor, dass das Kind einen Schreck fürs Leben bekommen haben muss. Die Leiche sah bestimmt nicht mehr gut aus, angenagt von Krabben und Fischen, halb verwest. Als von dem Fund in der Zeitung stand, hatten sich wohl manche schon gefragt, ob das vielleicht unser Egil sein könnte. Aber so weit weg und außerdem, hatten die Wahrsagerinnen nicht gesagt…?
Nach der kriminaltechnischen Untersuchung, wie es im Artikel ein paar Tage später in der Zeitung hieß, war klar, die Leiche ist unser Egil. Und was besonders erschreckend oder, wie soll ich sagen, einfach entsetzlich ist: Egil ist ermordet worden! Irgendjemand hat ihm den Schädel eingeschlagen und ins Wasser geworfen. Er ist nicht ertrunken, sondern an den Schlägen, genau genommen zwei Schläge, die ihm den Schädel gebrochen haben, gestorben. So hieß es. Das war eigentlich noch ungeheuerlicher als, dass er sich das Leben genommen haben sollte. Egil und ermordet! Der sanfte ruhige Egil. Wer konnte denn derartiges tun? Auch noch in unserem kleinen Ort? Das war sicherlich ein vorübergehender Irrer, so war die einhellige Meinung der Leute, von hier konnte es niemand gewesen sein. Man kannte sich, da gab es eigentlich niemanden, dem man so etwas zugetraut hätte. Aber in der letzten Zeit schlichen immer wieder Ausländer in unserer Gegend herum, vermutlich aus dem Asylheim der Kreisstadt. Oder wie die Polen, die von Haus zu Haus gegangen waren und unter einem Vorwand billige Bildchen verkauft hatten. Studenten! Pah! Alleinerziehende Mütter! Doppelt-Pah! Von denen war es sicherlich einer gewesen. Das war so klar wie das Amen in der Kirche. Trotzdem wurde viel hin und her spekuliert. Das merkwürdige war nur der Zettel. Sucht mich nicht. So was schreibt man doch nicht, bevor man ermordet wird. Vielleicht war alles nur ein dummer Zufall, Egil hatte sich einen Spaß machen, ein Rätsel aufgeben wollen mit diesem Zettel und seltsamerweise war er gleich darauf ermordet worden, einfach aus purem Zufall. Und dass er sich vorher ausgezogen hatte, war auch ein Teil seines Spaßes gewesen. Fragen über Fragen. Und alles scheint gleich unwahrscheinlich. Und wenn er den Zettel gar nicht geschrieben hat, wenn es die Schrift des Mörders ist, so denke ich jetzt. Aber Evald hatte sie eindeutig identifiziert als die seines Bruders. Wann hatte denn Evald schon mal die Schrift von Egil gesehen? Die schrieben sich doch keine Briefe. Der Kontakt war eh nicht so eng gewesen, dazu waren die Brüder viel zu verschieden. Evald lieferte Fische, Egil bezahlte sie und damit hatte sich das ganze schon. Manchmal hatte Evald Egil auch zum Essen eingeladen, zu einem seiner gekonnten Fischgerichte, sogar ab und zu an Festtagen, aber Egil hatte in den letzten Jahren keine Lust mehr gehabt, hin zu gehen. Kopf- und Handarbeiter haben sich wohl so viel nicht zu sagen. Ja, das weiß ich von Egil, so hat er es selbst ausgedrückt.
Ist doch klar, dass der Mörder entweder ein vorbeigelaufener Irrer oder ein Ausländer war, aber es ist ja nicht verboten, sich trotzdem seine eigenen Gedanken zu machen. Andere eben.