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Leseprobe:
 

MONTAG

Sie hatten alle die gleiche Einladung bekommen. Die Einladung zu einem Treffen von Autoren, die als Gemeinsames ihre Liebe zum nördlichsten Teil Europas hätten. So stand es geschrieben. Der Einladende würde sich freuen, für eine Woche im März Gastgeber sein zu dürfen. Für die Ausfallzeit und eventuelle Unbequemlichkeiten bei der Übernachtung böte er eine kleine Aufwandsentschädigung an in Höhe von, hier war die Summe genannt, für die die meisten der Eingeladenen auch in einem Heuschober zu campieren bereit gewesen wären. Zwei Bedingungen gäbe es, zum einen müsse der eingeladene Autor bereit sein, einmal in dieser Woche an einem Abend, der noch festzulegen wäre, eine Lesung für die anderen Eingeladenen und den Gastgeber zu veranstalten. Der Text müsse inhaltlich in irgendeinem Sinne mit dem Thema Norwegen verbunden sein. Die restliche Zeit hätte der Autor zu seiner eigenen Verfügung. Und es gäbe noch eine andere Bedingung, der Eingeladene müsse Fischesser sein, sich zumindest dem Fischgenuss nicht widersetzen.
Der Einladende, der sich selbst nur Gastgeber in dem Brief nannte, würde sich glücklich schätzen, den Autor/die Autorin in seinem bescheidenen Domizil begrüßen zu dürfen. Für
Essen und Getränke wäre gesorgt. Die Einladung war Monate zuvor an die Autoren ergangen, so dass alle ausreichend Zeit hatten, sich diese Woche freizuhalten.
Und so reisten sie an. Vier Männer und drei Frauen aus ganz Deutschland.
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Klaus T. lümmelte am Lesepult ebenso wie auf allen anderen Stühlen. Er hatte offensichtlich Schwierigkeiten, seine langen Beine unterzubringen. Er trank Bier, auch während seines Lesens.
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All das längst Vergessene

Es ist zunächst wie immer. Ole erwacht, liegt kurze Zeit, ohne sich zu regen, dreht sich Paula zu und wie jeden Morgen fragt Paula: „Hast du gut geschlafen?“
Ole glaubt zumindest, dass sie genau das gesagt hat, wie jeden Morgen seit über vierzig Jahren. Doch nur der Tonfall war vertraut, die Worte klangen ihm fremd, unverständlich. Etwas ist geschehen, was Ole nicht begreift. Was niemand später begreift. Denn keines seiner Worte wird verstanden. Nicht von Paula, seiner Frau, mit der er mehr als vierzig Jahre verheiratet ist, nicht von Solveig, der Tochter, die mit ihrer Familie in seinem Haus lebt, nicht vom Enkel Peter. Niemand versteht ihn. Und er versteht niemanden.
Ole geht auf die Straße, läuft den langen Weg bis zum Kaufladen. Der ist ihm vertraut, hat sich in den letzten Jahren nicht verändert, ist übersichtlich geblieben, obwohl die großen Märkte ihn zu verdrängen suchen.
Ole nimmt den Korb und geht an das Regal, in dem Werkzeug liegt, wo er Fahrradflickzeug finden kann, wenn er es braucht, und auch Nägel. Herr Severin, der diesen Teil des Ladens betreut und mit dem er oft einen gemütlichen Schwatz hält, sieht ihm freundlich erwartungsvoll entgegen. Aber es ist wie verhext. Als Herr Severin ihn anspricht, hört und begreift Ole, dass es hier nicht anders verlaufen würde als zu Hause. Er begrüßt den Mann und auch das ist schon verkehrt. Zuerst lacht Herr Severin, fragt etwas. Als er die Antwort nicht versteht, wird er ungeduldig, fühlt sich wohl genarrt. Kopfschüttelnd verschwindet er hinter einer Tür. Es kommt einer Flucht gleich.
Ole muss erkennen, dass alle Menschen seiner Umgebung in einer ihm fremden Sprache reden und er wiederum in einer den anderen unverständlichen. Woher hat er plötzlich Worte, die niemand kennt, obwohl er doch Jahrzehnte lang mit allen Leuten geredet hat? Ja, etwas ist geschehen. Nur was?
Ole verstummt. Einige Male noch hat er versucht, sich verständlich zu machen. Es ist ihm nicht gelungen. Auch die anderen verstummen ihm gegenüber. Es werden nur die allernötigsten Dinge mit Zeichen übermittelt, von jeder Seite mit wachsender Ungeduld. Es dauert nicht lange und er ist vergessen, obwohl er weiterhin auf seinem Platz sitzt oder geht oder neben Paula schläft. Es gibt ihn nicht mehr. Ole ist nicht mehr zu Hause, dort, wo er jahrzehntelang zu Hause gewesen ist. Nur der Enkel ignoriert ihn nicht gänzlich. Einmal sagt er: „Komm, Opa, wir spielen eine Partie Schach", wie sie es auch sonst ab und zu getan haben. Ole versteht nur das Wort Schach. Er holt das Brett, stellt die Figuren auf. Er zeigt mehrmals deutlich auf sich und nennt Peter das Wort für Großvater in der dem Jungen fremden Sprache.
Der wiederholt das Wort. „Bestefar“, er lauscht dem Klang nach, lacht. „Du bist schon 'ne Type, Opa Bestefar.“
Als Ole nicht reagiert, fragt er: „Kann man jetzt alles zu dir sagen? Verstehst du überhaupt nichts? Kann ich dich auch alter Dussel nennen? Nein", unterbricht er sich selbst ein wenig erschrocken, „ich tu‘s ja nicht, ich will‘s bloß wissen."
Ole schweigt und setzt seine Figuren. Der Junge schwatzt und schwatzt, denkt er, soll lieber spielen und aufpassen.
„Hat ja auch seine Vorteile", meint Peter, „weißt du, manchmal wäre es mir schon ganz recht, wenn ich nicht alles verstehen würde, wenn Mutti zum Beispiel schimpft oder in der Schule, der dicke Benno, was der immer für ‘nen Blödsinn - "
„Schach“, sagt Ole. Es klingt so ähnlich wie in der Sprache des Jungen. Der sieht verblüfft auf das Brett. Auch noch matt. So schnell hatte ihn sein Opa schon lange nicht mehr besiegt. Sie stellen erneut die Figuren auf. Jetzt spricht keiner mehr. Die Worte, die gesprochen werden, sind Schach und zum Schluss „matt", mehr nicht und das letzte Wort hat Peter. Es ist nur dieses eine Mal, dass der Enkel mit ihm spielt. Und es ist ziemlich zum Anfang der Sprachschwierigkeiten. Trotzdem ist Peter der Einzige, der ihm nicht böse zu sein scheint, manchmal lächelt er Ole an, aber allmählich vergisst auch er, dass da noch einer sitzt und bei ihnen wohnt. Er ist der Letzte, der ein Wort an ihn gerichtet hat, bei ihm schmerzt es Ole besonders.
Tag und Nacht grübelt Ole über diese unheimliche Veränderung nach. Die neue Sprache ist ihm seltsam vertraut, er empfindet dabei ein nicht zu benennendes Wohlbehagen, wenn er einzelne Worte ausspricht. Nur für sich, denn an andere richtet er sie nicht mehr. Manchmal grübelt er auch darüber nach, wie es möglich ist, dass er in wenigen Wochen den anderen schon so fremd geworden, dass die Vertrautheit plötzlich zerbrochen ist, als hätte es sie nie gegeben. Doch seltsamerweise ist Ole nicht unglücklich, nachdem das erste Erschrecken, das große Erstaunen überwunden ist. Nein, er ist nicht unzufrieden und auch das begreift er nicht, hat er doch immer geglaubt, in seiner Familie glücklich zu sein. Er sieht in die ihm einst so lieben Gesichter. Nun, wo er nicht mehr versteht, was gesagt wird, wirken auch die fremd. Er sieht einen gehässigen Zug um den Mund der Tochter, den er nie zuvor bemerkt hat, entdeckt an Paula grobe Bewegungen, die früher von ihren freundlichen Worten überdeckt gewesen sind. Er beobachtet genauer als in der Zeit vor der Wandlung. Das hält ihn aber nicht davon ab, weiterhin darüber nachzudenken, woher diese fremden Worte aus ihm kommen, weshalb sie ihm so angenehm, ja, vertraut klingen.
Und dann weiß er es wieder. Ole ist sehr erstaunt, dass er nicht früher darauf gekommen ist und dass es wiederum in einer Nacht geschieht. Plötzlich ist da ein Geruch. Einer, den er sein Leben lang vergessen glaubte, der Geruch nach trockenem Fisch. Nach Fisch, der auf ein Holzgerüst gehängt worden war zum Trocknen und der im Sommer, steinhart geworden, mit dem Axtrücken weich geklopft als Näscherei gegessen wurde. Auch von ihm. Mit diesem Geruch kommt die Erinnerung. Er sieht die Fische auf dem großen Gestell im Winde schwanken. Ganz deutlich riecht er sie, als würde er daran vorbeilaufen. Wie hat er diese Zeit nur so gänzlich vergessen können?
Nun erinnert er sich wieder, dass die Eltern in dieses fremde Land gezogen waren, weit weg von der ihnen vertrauten Gegend. Das hatte man ihm damals erzählt. Es muss gleich nach seiner Geburt gewesen sein. Aber Ole weiß nicht oder nicht mehr, weshalb und wie lange sie dort gelebt hatten. Er weiß nur, dass sie eines Tages wieder fortgezogen waren, in das Land des Vaters, die Mutter war kurz zuvor in der Fremde gestorben. Wohl aus diesem Grunde durfte Ole niemals nach dieser Zeit fragen. Einmal gab es sogar Schläge deswegen. Ole verbannte die Zeit seiner Kinderjahre tief in seinem Gedächtnis, nach und nach vergaß er sie gänzlich.
Nach diesem Wissen kommen allmählich weitere Erinnerungen, stellen sich als Bilder ein, als Gerüche, Laute. Er sieht das Bild, als er weinend, einen Handkarren ziehend, an dem Trockengestell vorbeilief, hinunter zum bereits wartenden Boot. Er roch die Fische und er sah den alten Mann, der oben an seinem Haus stand und ihm zuwinkte. Es war der Tag gewesen, an dem sie zurück in das Heimatland des Vaters gefahren waren. Ole versucht, sich an den Namen des Mannes zu erinnern. Es gelingt ihm nicht. Später erinnert er sich, dass er den Alten Großvater genannt hat. Und der ihn nicht Enkel, sondern Sohn rief. Manchmal Ole-Sohn. Aber immer Sohn. Ja, daran erinnert sich Ole, tief in seinem Sessel vergraben. Er vermeint sogar, die Stimme des Alten zu vernehmen, eine nicht sehr tiefe, etwas heisere Stimme, leicht singend, die Worte melodiös dehnend.
„Später erbst du mein Haus“, hatte der Alte oft gesagt, „und mein Bootshaus, dann kannst du Fischer werden wie ich, du kannst damit eine Familie ernähren, so gut wie nur irgend einer.“ An diese Worte denkt Ole jedoch erst Tage später, als sich die Erinnerungen vervielfachen, als sich schon andere Geschehnisse als nur Bilder einstellen. Nein, er ist kein Fischer geworden, obwohl er es damals wohl selbst fest geglaubt hatte. Aber wie viele Kinderwünsche gehen nicht in Erfüllung. Doch war es mehr gewesen damals, kein Wunsch, sondern eine Gewissheit. Du erbst mein Haus und wirst Fischer wie ich. Eine Voraussage, der man sich nicht entziehen konnte. Er hatte sich ihr trotzdem entzogen. Gegen seinen Willen war er ihr entzogen worden. Nein, Fischer war er nicht geworden, sondern hatte sein Lebtag in einem beliebigen Büro gesessen, eine beliebige Arbeit ausgeführt. Sie hatte ihn nie sonderlich interessiert, doch hatte er so viel Geld verdient, sich sein Haus zu kaufen, eine Familie ernähren zu können. Und –
War er glücklich gewesen? Wie oft hat er sich das in den letzten Tagen gefragt und ebenso wie jetzt keine Antwort gefunden. Nicht ja, nicht nein. Fischer. Er will bei der Erinnerung an den Alten verbleiben, da schiebt sich ein neues Bild darüber. Ein Haus, aus dem eine Frau tritt, seine Mutter. Eine große starke Frau, die ihn lachend ansieht und mit der Hand winkt. Sie lehnt sich auf das Geländer vor dem grünen flachen Haus, das ein wenig wie eine Baracke wirkt. Aber diesen Begriff fügt Ole erst jetzt hinzu, jetzt, wo er weiß, wie Baracken aussehen. Damals hat er das nicht gedacht, damals war es für ihn sein Zuhause gewesen. Er selbst ist nicht mit in dem Bild, aber er weiß, dass er vor dem Haus stand mit dem Schulranzen auf dem Rücken, froh, wieder daheim zu sein, seine Mutter und das Haus zu sehen. Ungefähr neun Jahre alt muss er gewesen sein. Er hatte einen langen Weg hinter sich, mit dem Ruderboot einen Kilometer über das Wasser. Die Wellen waren ziemlich hoch gewesen, der Wind von vorn gekommen und der Weg von der Schule herüber weit geworden. Ein Kilometer. Bei schönem Wetter nur ein Möwenschitt weit. Und er sah sich bei anderer Gelegenheit, ebenfalls mit dem Ranzen auf dem Rücken. Niemand stand vor dem Haus. Die Mutter lag schon krank im Bett.