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29.9. Donnerstag, Manfred:

Wo kommen nur die heulenden Wölfe her, ist heute früh mein erster Gedanke. Allmählich erkenne ich den morgendlichen Ruf des Muezzins, elektrisch verstärkt bzw. verzerrt. Die vielen Hunde der Umgebung begleiten begeistert den Gesang in der frühen Nochdunkelheit. Der erste Tag im Morgenland beginnt, in irgendeinem entfernten Vorort von Istanbul, ganz in der Nähe des Marmarameeres.

Die rote Leuchtschrift mit dem magischen Namen "Hotel" lasen wir gestern beide gleichzeitig. Kurz darauf gelang es mir tatsächlich, die mehrspurige Ausfallstraße ohne offizielle Abfahrt einfach über den Seitenstreifen zu verlassen und auf holpriger Schotterstrecke zum ersehnten Ziel unserer Wünsche zurück zu tuckern. Schließlich sollte es uns nicht so ergehen wie letztes Jahr in Kanada, als wir nach 21.00 Uhr am ersten Tag keine Schlafmöglichkeit mehr fanden und nach der langen Anreise im Auto nächtigen mussten.

Bereits vor dem Hotel erwartete uns ein junger Mann, der uns heftig und bestimmt gestikulierend in eine freie Parklücke in der Nähe des Eingangs dirigierte. Orientalische Musik klang verführerisch aus allen geöffneten Fenstern und Türen in den milden Abend, den monotonen Verkehrslärm der nahen Ausfallstraße übertönend. Istanbul - der erste Abend in der außergewöhnlich belebten türkischen Metropole! Nur langsam drang ins Bewusstsein die Frage vor, warum nur alles in roten Farbtönen gehalten war. Tatsächlich, wir waren in einem der speziellen Etablissements gelandet, die offenbar überall in der Peripherie einer Großstadt anzutreffen sind. Man könnte auch kurz sagen, wir waren im Puff!

Aber was soll´s, man bemühte sich sehr um uns. Vielleicht eine Art Altersrabatt, mit fast 70 Jahren kann man die Spuren des Erlebten schließlich schwer verheimlichen. Das Zimmer für umgerechnet weniger als 30 Euro (allerdings ohne weiteren hauseigenen Service!) erwies sich als passabel, hatte sogar ein Bad und verfügte als Krönung des Luxus' über einen zentral im Raum aufgehängten Föhn. Irgendwie beunruhigend war lediglich die Tatsache, dass unsere Pässe auch nach dem Löhnen der 60 türkischen Lira, nicht zurück gegeben wurden. Eine weitergehende Verständigung war weder mit dem Portier noch mit jemand anderem der interessiert herumstehenden Männer möglich. Wider Erwarten sprach niemand ein Wort Deutsch und an das einheimische Englisch muss ich mich erst gewöhnen. Nach der wirklich chaotischen Fahrt durch den Feierabendverkehr von Istanbul wäre mir aber jeder Stall und noch einige Unbill mehr angenehm gewesen. Typisch für die hiesigen Fahrgewohnheiten war zum Beispiel das Verhalten an den vielen Baustellen. Einen Kilometer vor dem Engpass durch große Schilder angekündigt, machte niemand Anstalten, darauf zu reagieren, niemand verließ die angeblich gesperrten linken Spuren. Auch nach fünfhundert Metern noch nicht. Alles kein Problem in Istanbul, vier Fahrspuren lassen sich ohne weiteres auf zwei reduzieren, wenn man nur etwas näher zusammen rückt! Allerdings war Obacht auf die Seitenspiegel angesagt. Ich wählte die linke Außenspur, da drohte Gefahr wenigstens nur von einer Seite. Dabei durfte ich mich allerdings nicht in die metertiefe Baugrube drängen oder von den unablässigen Lückenspringern nervös machen lassen!

Da sind wir jetzt also wohlbehalten in dem Land, das schon seit einiger Zeit ganz oben auf meiner Reiseliste steht. Irgendwie möchte ich für mich die Frage klären: ist die Türkei, flächenmäßig doppelt so groß wie Deutschland, ein ernsthafter Kandidat, in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen zu werden oder nicht? Immerhin wäre dann der Vielvölkerstaat (30 Mio. Kurden, dazu Araber, Armenier, Georgier, Tschetschenen, Griechen und viele andere) mit seinen mehr als 70 Millionen Einwohnern nach Deutschland das zweitgrößte Land und damit auch ein sehr einflussreiches Mitglied in der Gemeinschaft. Und wie sieht es mit dem sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergrund aus? Immerhin bekennen sich 99 % der Einwohner zur islamischen Religion. Nur, wie wichtig ist das, welchen Einfluss auf das tägliche Leben (im Vergleich zur zweitrangigen Bedeutung des Christentums heutzutage in unserer gegenwärtigen modernen Gesellschaft) kann man hinter dieser Zahl vermuten? Immerhin gibt es in der Türkei eine strenge Teilung von Staat und Religion, vielleicht sogar grundsätzlicher als bei uns in Deutschland, wo sich der Staat in nicht unerheblichem Umfang sogar um die Finanzierung der Kirchen kümmert.

Leider hatte Monika stets gewisse Vorbehalte, als Frau in ein islamisches Land zu fahren und sich dort unorganisiert auch außerhalb der bekannten Touristengebiete zu bewegen. Jeder, dem wir von unseren Plänen erzählten, versorgte uns (auch ohne jegliche eigenen Erfahrungen) mit guten Ratschlägen. Im Rock müsse sie gehen, der Ehering sollte gut zu sehen sein, wenn wir in einem Hotel zusammen übernachten wollten und, natürlich, auf keinen Fall das Kopftuch vergessen! Dazu erschienen auch in den Medien immer wieder irgendwelche abenteuerlichen Meldungen über das Leben in einem islamischen Land und oft stand dabei sogar hintergründig das böse Wort vom Terrorismus im Raum. Dabei war ich vor zwanzig Jahren schon einmal in Istanbul und konnte selbst nur von sehr positiven Eindrücken und Erfahrungen berichten. Meinen Beteuerungen, dass das alles nicht ganz so wäre, wie es aus der Entfernung und aus der Sichtweise unserer christlichen Kultur wirke, dass es sich manchmal sogar um bewusste Fehlmeldungen handeln könnte (schließlich stehen christlicher und islamischer Glaube in einem gewissen Wettbewerb!), wurde wenig Beachtung geschenkt. Nun also die Probe aufs Exempel.



Monika: 8.30 Uhr, wir haben gefrühstückt. Ein Teller voller Tomaten- und Gurkenscheiben, Oliven, 1 Scheibe Wurst, 1 Scheibe Schnittkäse, 1 Scheibe Ziegenkäse, 1 gekochtes Ei, frisches Weißbrot, schwarzer Tee. Mit uns im Frühstücksraum an verschiedenen Tischen ein Dienstreisender und ein älterer Mann. Die beiden Angestellten frühstückten ebenfalls. Der Dienstreisende aß nur sehr wenig. Als er ging, war der Teller noch gut gefüllt. Einer der Angestellten nahm ihn, ordnete noch ein wenig dazu, tauschte mit dem älteren Mann den Platz. Dann saß er an einem entfernten Tisch, las Zeitung und der Alte (vielleicht ein Verwandter) verspeiste das noch reichliche Frühstück. Bei uns blieb aber nicht einmal eine Olive zurück.

9.10 Uhr on tour. Nach unangenehmer Fahrt durch Vorstädte und Industriegebiete, kommen wir durch kleine Ortschaften, vorbei an bereits geöffneten Cafés, wo ausschließlich Männer sitzen, auffallend vielen Gemüseläden, allgegenwärtigen Moscheen. Und jetzt stehen wir auf einem Grusweg mitten in den Bergen hinter Barbaros. Unser Navi-Ali wollte uns zwar anders führen, aber Manfred wählte den für ihn wahrscheinlicheren Weg - und so stecken wir jetzt ziemlich fest. Es ist herrliches Sommerwetter, draußen ist die Luft angenehm, im Auto zu heiß, weil wir noch nicht heraus gefunden haben, wie die Klimaanlage funktioniert. Also werden wir wohl umkehren, wieder zu gepflasterten Straßen. Hier ist es sehr still, links das Meer, vor uns karg bewachsene Berge.

Wir sind dann doch nicht umgekehrt, sondern vier Kilometer weiter auf dieser grässlichen Schotterstraße durch die Berge bis zum nächsten Ort getuckert. Der Frieden im Auto war das erste Mal in Gefahr, weil ich für diese Weiterfahrt war. Von diesem winzigen Ort, der auf keiner Karte zu finden ist, geht aber eine ganz neue Asphaltstraße ab, die noch nicht einmal mit Begrenzungsstrichen versehen ist. Glück gehabt. Gewaltige Serpentinen führen uns hinab. In der Tiefe sehen wir das bewegte Marmarameer. Es weht ein heftiger Wind.

Eine Stunde später haben wir in einem kleinen Städtchen gegessen. Drei Hunde lagen unter und neben den beiden Tischen, die im Schatten standen, wir waren ganz allein. Eine nur türkisch sprechende ältere Frau, zeigte auf verschiedene Speisen, wir entschieden uns für Köfte, eine Art von Buletten. Das Essen bestand dann aus sechs dieser Buletten, einem sehr großen Teller mit Tomatensalat und frischem Weißbrot. Die Hunde kamen näher, noch vier weitere dazu, der große Hund, offenbar zum Haus gehörend, verbiss den einen, da wagten sich auch die anderen nicht heran. Die Tiere bekamen schließlich ihr Scherflein von uns, die Frau ihr Geld (25 TL). Wir müssen unbedingt lernen zu handeln, der Preis erschien uns doch ziemlich hoch.

Bevor wir weiterfuhren, kauften wir noch Weintrauben, die zwei Männer direkt von ihrem kleinen Lkw abgaben, sie schmecken sehr süß, ganz hervorragend. Wir fuhren weiter zur Fähre in Eceabat, die uns für 18 TL nach Canakkale brachte. Der erste Ort in Asien, der uns aber sehr europäisch vorkommt. Auffallend ist die sehr schöne Uferpromenade. Wir fahren aber weiter, wollen heute noch nach Troja, oder Troia, wie es hier überall steht.

12.30 Uhr: Beobachtungen beim Fahren durch Gaziköy, aber auch in anderen Orten. Wenn ein Mann irgendetwas zu tun hat, stehen immer ein paar andere drum herum und sehen zu, natürlich ausschließlich Männer.

Man sieht viele Kinder in Schuluniformen. Sehr kleidsam, einzeln wäre die Kleidung nicht als Uniform zu erkennen, Mädchen mit karierten oder dunklen Röcken und weißer oder bunter Bluse, Jungs in dunkler Hose und farbigen T-Shirts. Die älteren Jungen tragen durchweg Anzüge und Schlipse. Überhaupt sieht man viele Männer, vor allem ältere, in Anzügen.

Wir überholen einen Motorradfahrer, der einen alten Stahlhelm als Kopfschutz trägt. Auf vielen Bergen drehen sich Windräder.

16.30 Uhr: Die Abfahrt nach Troia ist erreicht. Ärgerlich, sie ist gesperrt, offenbar wegen eines Straßenradrennens. Wir stehen an einer Tankstelle, ein paar hundert Meter entfernt, mit Blick auf die Kreuzung. Wenn wir jetzt weiterfahren, werden wir nie mehr im Leben Troja sehen. Also bleiben wir und warten.

20.30 Uhr: Wir sind doch weiter gefahren und haben versucht, Troja von der anderen Seite, vom Meer her, zu erreichen. Sind durch kleine Ortschaften gekommen, einsame Straßen, von Feldern hab ich mir zum Andenken ein Büschelchen Baumwolle gepflückt und ein Stück weiter ein paar Tomaten fürs Abendessen. Tomaten und Baumwolle aus Troja - wenn das nichts ist!! Ständig sieht man kleine Lastwagen oder Traktoren mit Anhängern voller Tomaten, manchmal in Kisten, oft aber auch einfach auf einen großen Haufen geschüttet. Die sind dann schon Ketchup, wenn sie in der Fabrik landen. Aber nach Troja sind wir so nicht gekommen, obwohl wir einen ganzen Kreis um dieses Gebiet geschlagen haben. Es gibt offenbar nur einen Zufahrtsweg.

Schließlich waren wir wieder auf der Ausfallstraße von Canakkale gelandet mit den vielen Baustellen, die uns schon auf dem Hinweg genervt hatten. Aber wir haben endlich auch ein Hotel unmittelbar neben einer Tankstelle gefunden, ein exklusives Zimmer bezogen, Manfred war zuvor an der Rezeption und hatte den ursprünglichen Preis von 120 TL auf 100 TL runtergehandelt, was sicherlich immer noch zu hoch ist. Aber das Zimmer ist wirklich gut, hat Klimaanlage, einen schönen Blick bis zu den Dardanellen, wo die Abendsonne hochrot steht, ein paar fahrende Schiffe zu sehen sind. Wirklich sehr schön.

Wir sind noch ins Restaurant gegangen, haben ein Bier getrunken. Ja, obwohl wir jetzt in Asien sind, ist davon für unsere Augen nichts zu sehen, alles wirkt europäisch. Keine Frau trägt Kopftuch, sie gehen kurzärmelig, die Kellnerin rauchte vor dem Restaurant. Nichts erscheint uns fremd. Merkwürdig ist bisher nur, dass bei der Fahrt durch kleine Städte oder Dörfer ausschließlich Männer schon morgens die Cafés bevölkern.



Manfred: Nun sind wir schon einige Zeit im asiatischen Teil der Türkei unterwegs. Ursprünglich wollte ich eigentlich mit dem eigenen PKW diese Reise unternehmen. Leider war keine deutsche Versicherungsgesellschaft bereit, das Auto auch im asiatischen Landesteil zu versichern. Nur bis Istanbul wäre das möglich gewesen, darüber hinaus hätte ich vor Ort eine einheimische Versicherung abschließen müssen. Das erschien mir, allein wegen der Sprachprobleme, zu aufwendig. Deshalb also dieser Leihwagen.

Fast immer in der Nähe des Marmarameeres und entlang der rund 60 Kilometer langen Meerenge der Dardanellen führte die heutige Etappe auf die Gelibolu Halbinsel und von dort per Fähre nach Canakkale. Was wurden in der Gegend für Kämpfe um genau diese Meerenge zwischen Europa und Asien, der Verbindung von Mittelmeer und Schwarzem Meer, in der Vergangenheit geführt! Der persische Kaiser Xerxes setzte bereits im 5. Jahrhundert vor der Zeitenrechnung, angeblich mittels einer Brücke aus Schiffen, dort über und versuchte seinen Einfluss auf Europa zu erweitern. Alexander der Große folgte ein Jahrhundert später in umgekehrter Richtung, indem er sein Weltreich weit nach Asien hinein ausdehnte, Kaiser Barbarossa wählte 15 Jahrhunderte später, zur Osterzeit des Jahres 1190, ebenfalls mit seinem Kreuzfahrerheer diesen Weg, als er auszog Jerusalem zu "beglücken". Wen wundert es, wenn weitere 700 Jahre später das Interesse der Weltmacht England an dieser strategisch interessanten Stelle erwachte und es während des 1. Weltkrieges verzweifelt versuchte, die Kontrolle über die Durchfahrt zu erlangen. Praktischerweise schickte man australische und neuseeländische Truppen in die äußerst verlustreichen Kämpfe mit den türkischen Verteidigern. Über 500.000 Tote auf beiden Seiten waren das Resultat derartiger Begehrlichkeiten. Die Verluste der früheren Aktionen sind zum Glück vergessen.

Unsere heutige Fahrt entlang der Küste verlief bis auf den manchmal recht unterschiedlichen, sprich undiskutablen Straßenzustand, ziemlich ereignisarm. Die richtige Tagesetappe zum Eingewöhnen. Dabei bewegten wir uns, wenn man so will, durch ehemals osmanisches Kernland (auf europäischem Boden wohlgemerkt). Als im 15. Jahrhundert der gesamte Balkan zum Reich gehörte, die Osmanen sogar vor Wien standen, ihnen die Schwarzmeerküste gehörte und Edirne die Hauptstadt des Landes war, hatte die gut bewohnbare und mit fruchtbaren Feldern gesegnete Gegend große Bedeutung. Edirne blieb aber nur hundert Jahre Hauptstadt, ist heute eine im Prinzip bedeutungslose Grenzstadt zu Bulgarien und die blühende Provinz Thrakien die absolute Peripherie der Türkei. Nur noch 3 % der Einwohner leben heute im europäischen Teil des Landes.

Die bisherige Landschaft war mittelgebirgig, die Hänge allerdings waldlos, nur mit losem Gebüsch, einigen Pinien und verwildert anmutenden Olivenbäumen bewachsen. Dafür entschädigten immer wieder tolle Ausblicke über das ruhige und strahlend blaue Marmarameer. Dort am Ufer konnte man seltsame und bisher nicht gesehene Konstruktionen, wahrscheinlich zum Fischfang, bewundern. Vielleicht wohnen bzw. übernachten Menschen in den kleinen auf Pfählen ins Meer gebauten Hütten. Von diesen Plattformen lassen sich dann wohl bequemer die Fische überlisten. Leider konnte ich die Funktionsweise der Netze an keiner Stelle in Aktion beobachten.

Interessanter erwies sich da schon die Überfahrt vom europäischen Eceabat zum asiatischen Canakkale. Der heftige Wind ließ das Wasser schäumen, die Fähre schlingerte und schaukelte spürbar. Mit uns an Bord war ein Mann mit seinem Pferd, dass er die ganze Zeit fest am Halfter halten musste. Zum Dank ließ das Tier (bestimmt zur Freude der Besatzung) einen prächtigen Haufen dampfender Äpfel auf die Planken fallen. Vom Wasser aus konnten wir auch ein riesiges Bild am Berghang über der Stadt bewundern. Ein vielleicht 30 m hoher Soldat mit Gewehr in der Hand, dazu war eine große und sicherlich kämpferische Inschrift mit weißer Farbe auf den nackten Fels gepinselt. Eine ebenfalls überdimensionale türkische Flagge vervollständigte das Kunstwerk.



30.9. Freitag: Troja - das war also der Platz, der mir seit frühester Kindheit bzw. Schulzeit bekannt ist. Ein Glitzerwort, geheimnisvoll und als Ort stets in unerreichbarer Ferne. Mit Euphorie gekommen, verlasse ich leicht enttäuscht diesen Touristentreffpunkt. Die vorhandenen ausgegrabenen Reste mehrerer Jahrhunderte Siedlungsgeschichte beeindrucken mich nicht übermäßig, weiß ich als Laie doch nie, was echt und was nur nachgestaltet ist. Dazu die ständigen Nörgeleien und Streitigkeiten zwischen sogenannten Experten, die im Extremfall manchmal sogar total Gegensätzliches "wissenschaftlich" beweisen. In einem Historikerstreit in Deutschland hatte kürzlich einer der Wissenschaftler behauptet, Troja wäre ein kleines Kaff gewesen. Ein Sturm der Entrüstung antwortete ihm von seinen Fachkollegen. Er wurde daraufhin sogar mit dem erstaunlichen richterlichen Spruch belegt (die Gerichte in Deutschland suchen offenbar dringend überflüssige Streitfälle!), er dürfe das nicht mehr sagen, ansonsten müsse er eine horrende Summe Strafe bezahlen. Irgendwie geben wir aber dem Historiker, dessen Namen ich leider vergessen habe, recht. Troja könnte wirklich nur ein Kaff gewesen sein (auch wenn noch viel Unausgegrabenes in der Gegend vorhanden sein sollte).

Wie soll man z. B. die angeblich neun übereinander befindlichen verschiedenen Siedlungsepochen vom 3. Jahrtausend vor bis zum 14. Jahrhundert nach der Zeitenrechnung nur halbwegs exakt voneinander trennen? Handelt es sich doch um runde 5.000 Jahre im Boden verborgene Geschichte, die nun anhand von übrig gebliebenen Steinen und bestenfalls Scherben erklärt werden soll. Hätte Homer ungefähr im 7. Jh.v.d.Z. und damit immerhin volle 500 Jahre nach dem Krieg, nicht die Ereignisse um den Ort Troja in seinen Werken literarisch verarbeitet, niemand würde sich um die Überbleibsel kümmern. Dabei ist keineswegs erwiesen, dass die in der "Ilias" handelnden Personen Agamemnon, Priamos, Helena oder Achilles tatsächlich existierende Menschen waren. Sogar den Standort von Troja vermuten manche Experten weiter im Osten, in Kilikien an den südlichen Ausläufern des Taurus.

Was Wahrheit ist und was Literatur, z. B. in der nicht unerheblichen Frage des eigentlichen Kriegsgrundes, bleibt eine weitere Unbekannte. Schließlich war Homer kein Historiker, sondern ein Dichter, der eine anrührende und noch dazu spannende Geschichte aufschrieb. In, sagen wir einmal nur den 3.000 Jahren vor der Entstehung des Christentums, werden angesichts der exponierten Lage des Ortes am Eingang der Dardanellen, mit großer Wahrscheinlichkeit mehrere Kriege um den strategisch wichtigen Platz geführt worden sein.

Allerdings hat aber Schliemann, aufgrund von Homers Beschreibung der örtlichen Gegebenheiten, tatsächlich in der hügeligen Küstenlandschaft vor den Dardanellen einen Hügel voller Steinreste gefunden und teilweise ausgegraben. Die Fragwürdigkeit der ganzen Angelegenheit wird aber schon dadurch deutlich, dass er die gefundenen Schätze (Schatz des Priamos) in die von Homer beschriebene Zeit und die möglicherweise frei erfundenen Ereignisse einordnete. Moderne Untersuchungen haben jedoch nachgewiesen, dass die wunderschönen Schmuckstücke bereits aus vorherigen Epochen stammen und somit viele hundert Jahre älter sind als angenommen.

Schade nur, dass die wertvollen Originale nach dem Krieg in Richtung Osten verschwanden. Vielleicht als ein Stück ausgleichende Gerechtigkeit zu sehen, denn Schliemann soll das Gold, auch wenn er es später in mehrfacher Höhe (angeblich fünfmal mehr als von Konstantinopel gefordert) bezahlt hat, ursprünglich in illegaler Weise aus dem Land geschafft haben. Aber auch in dieser Angelegenheit streiten sich die Fachleute und der dumme Laie wundert sich.

Trotz allem: es war ein besonderer Ort, zweifellos. Irgendwie hatte ich das Gefühl Teilhaber der Geschichte zu sein, tausende Jahre schrumpften zu einem Augenblick. Wenn die gerade mit der Hand berührten Steine hätten reden können! Und der danebenliegende Stein, vielleicht schon 1.000 Jahre vor dem ersten von Menschenhand bearbeitet und von anderen Menschen benutzt und berührt, nach einem Erdbeben, einem Brand oder einem feindlichen Angriff erneut verwendet und verbaut.

Lange saßen wir auch ganz ruhig und seltsamerweise allein im relativ kleinen Theater, dem Odeon und genossen den Blick in die Landschaft, über das ferne Wasser bis hin zu einer grünen Insel. Erst 1997 wurde bei Ausgrabungen eine Büste des römischen Kaisers Augustus, der das Haus im 1. Jahrhundert vor der Zeitenwende gestiftet haben soll, gefunden. Auch eine Marmorstatue von Kaiser Hadrian, der Troja im Jahre 124 auf einer seiner Wanderungen durch das römische Reich besucht hat (auf den Spuren von Homer?), wurde sichergestellt. Vielleicht saß er wie wir auf einer der Marmorbänke, mit großer Wahrscheinlichkeit waren die nämlich schon vorhanden, als er sich im Raume aufhielt.

"Von der Macht der Steine" möchte ich den heutigen Troja-Trip, nach einer früheren Erzählung von Monika benennen.



Monika: 12.00 Uhr: Wir sind in Troja gewesen. Ab 9.00 Uhr spazierten wir zwischen den Resten von Troja I - VIII herum, zusammen mit japanischen und englisch sprechenden Reisegruppen. Einiges war beeindruckend, schon wegen des Alters (5.500 Jahre). Aber ob alles zeitlich zuordenbar ist, wenn ständig übereinander gebaut wurde, mag angezweifelt werden. Ansehenswert für mich war eine noch gut erhaltene Rampe (über 4.000 Jahre alt), die 2.000 Jahre alte Marmorbank im Theater, auf der wir ausruhten, die Mauer des Priamos Palastes, vor der Manfred für ein Foto posierte. Ansonsten hauptsächlich Reste von Mauern und Gebäuden. Troja liegt oder lag auf einem kleinen Hügel, entfernt von den Dardanellen, aber in Sichtweite, so dass etwaige Feinde, und derer gab es wohl viele, schon rechtzeitig gesichtet werden konnten. Aber der Ort bzw. die Ausgrabungsstätte ist doch nicht so groß, als dass wir sie gestern aus der Ferne hätten sehen müssen.

Interessant war für uns, einmal in Troja gewesen zu sein, von dem man so viel gelesen und gesungen gehört hat. Und vermutlich sind deshalb auch all die anderen Touristen hier. Mit Homer können noch immer Menschen angelockt und kann somit Geld verdient werden. Da soll noch einer sagen, Literatur erziele keine Wirkung! Zwischen den Trümmern tummelten sich viele Eichhörnchen. Am Eingang stand das Trojanische Pferd des Odysseus, natürlich aus Holz wie in der Antike, japanische Touristen bestiegen es, nahmen Posen ein und ließen sich, stolz aus den Fenstern blickend, fotografieren.

Wir sind dann ein Stück weiter die Küste entlang gefahren nach Alexandreia Troas, einer antiken Stadt, 310 v.d.Z. gegründet und nach Alexander dem Großen benannt. Wir sehen erst einmal nur eine Ansammlung alter Klamotten, ein Tor, das verschlossen ist. Ein türkisches Paar irrt wie wir hilflos durch die Landschaft. Dann sind wir allein, steigen auf den höchsten Punkt und haben einen weiten Blick über die Ägäis, auf der große Schiffe fahren, blicken auf eine kleine Insel. Es bläst ständig heftiger Wind, dazu wolkenloser Himmel. Es ist warm, zum Schwitzen warm.

Nur 100 m weiter stoppen wir urplötzlich, denn wir haben die Thermen der Stadt gefunden, es gibt sogar einen Zugang. Diese Thermen wurden 300 v.d.Z. erbaut und nach einem Erdbeben im Jahre 200 vom reichsten Mann der Antike (woher man das wohl weiß?) Heraus Attila wieder errichtet. Noch immer ragen gewaltige Bögen empor, dazu Reste der alten Stadtmauer, die einst 8.000 m lang war. Sicherlich eine ehemals imponierende Stadt. Kaiser Konstantin soll sogar erwogen haben, sie zur Hauptstadt seines Reiches zu machen. Was ist daraus geworden? Einige vergessene aufeinander stehende Steine und erhaltene Rundbögen in einer öden Landschaft zwischen Feldern, Gestrüpp und kümmerlichen Korkeichen. Und was aus der Gegenkandidatin - die Weltstadt Istanbul.

15.30 Uhr: Fahrt durch die Troas entlang der Steilküste, so hat man (vor allem der Beifahrer) einen schönen Blick aufs stark bewegte Meer, die Bäume am Straßenrand bewegen sich heftig. Der Wind heult ums Auto. Die Landschaft auf der dem Meer abgewandten Seite ist teils trocken, kaum oder nur mit Büschen bewachsen.

Gerade haben wir eine "aufblühende" Stadt am Rande durchfahren, ein hässlicher Typenbau am anderen, alle leer, vermutlich auf Touristen wartend. Jetzt ist die Saison ja vorbei. Allerdings scheint die Küste in der Tiefe steinig.

16.00 Uhr: Babakale, kleiner Ort an der Steilküste, ein ehemaliges Piratennest mit Hafen und Mole. Wir haben den westlichsten Teil Kleinasiens damit erreicht, sind auf den Mauern eines Forts herum geklettert, haben es einmal auf der Ummauerung umrundet. Das Castell aus dem Jahre 1155 hat Pascha Moustafa errichtet. Von dort hatten wir einen schönen Blick auf die griechische Insel Lesbos. Ein kleiner Teil der Mauer, genau genommen nur ein Turm, war offenbar alt, bröckliges Gestein, alles andere wieder neu erbaut. Innerhalb des Mauerrings findet man Ausgrabungen von Häusern, von denen natürlich nur noch die Fundamente stehen. Über dem Eingangstor in die Festung ist eine Steinplatte mit arabischen Buchstaben eingelassen.

18.00 Uhr. Assos. Wir fahren auf den Berg, wo die alte Stadt liegt. Hier sollen Platon und Aristoteles gewirkt haben. Die Stadt galt im Altertum als die am schönsten gelegene in Asien und Europa. Die Akropolis steht (oder stand) wie üblich auf dem höchsten Punkt. Die Säulen sind aber offenbar aus verschiedenen Steinen nach dem Zerbersten wieder aufgerichtet worden. Für unsere Augen nicht sehr fachmännisch. Die Landschaft auf dem Berg ist mit von Menschenhand behauenen Steinen übersät. Eintritt zu diesem Punkt nur 5 TL, aber als wir das Auto abstellten, kam sogleich ein Parkwächter und forderte 3 TL, der übliche Preis hier an diesen Touristenstätten. Von oben hat man einen phantastischen Blick über den Golf von Edremit nach Lesbos, auf die gewundene Küste. Viele Inseln sind in der Ferne auszumachen.

Beim Hinabfahren zum Hafen von Assos kommen wir an den Resten der historischen Stadtmauer entlang, die auch als Ruine noch gewaltig wirkt. Eine steile Straße hinab an die Küste. Doch plötzlich noch der Blick auf ein altes Theater. Wir stoppen, gehen durch ein Drehkreuz und sind in der Antike, das Odeon ist noch gut erhalten, wir setzen uns auf die Steinstufen in der Sonne und denken uns ein Theaterstück. Über die Bühne hinweg sieht man aufs Meer und auf Lesbos. Wie oft mögen die damaligen Besucher die Fernsicht über die Bühne genossen und den Blick auf das Theatergeschehen vergessen haben? Zurück zum Auto gehen wir auf einer Jahrtausende alten gepflasterten Straße. Was für ein Gefühl! Wer alles mag sie vor uns betreten oder befahren haben?

20.30 Uhr: Am Hafen von Assos. Wir haben direkt am Wasser eine Unterkunft gefunden. Der Ort, der hauptsächlich aus Hotels und Restaurants besteht, ist autofrei. Jeder der Männer in den Hotelrezeptionen beteuerte, das wäre kein Problem, sie würden unser Auto holen und (irgendwohin) zum hoteleigenen Parkplatz fahren. Dieses hier bekam den Zuschlag, da der Parkplatz gleich neben dem Hotel liegt und Manfred selbst das Auto dort hinfahren konnte. 100 TL mit Frühstück, das offenbar wie in Deutschland in der Regel im Preis mit enthalten ist. Zum Haus gehört ein ins Wasser bebauter Ponton mit Tischen und Stühlen. Leider wehte der Wind zu stark, so dass wir nach dem einen Bier flüchten mussten. Aber es war eine wunderschöne Stimmung am und auf dem Wasser. Es dunkelte schnell, der Himmel färbte sich stark rosa, darüber schwebte die Mondsichel. Und da hinein erklang plötzlich Musik vom Restaurant nebenan, so glaubten wir zumindest. Es war die Musik, die Manfred vor Jahren bei einem persischen Händler gekauft hatte. Die Musik mit Geigen und Klavier, die ich so sehr mag, dass sie mich sogar zu einer Geschichte inspiriert hatte ("Persien"). Was für ein irrer Zufall. Nie zuvor haben wir sie irgendwo jemals gehört. Wir brachen auf, gingen zu diesem Restaurant, wo Gruppen von laut schwatzenden Engländern saßen - die Musik wurde eher leiser. Doch dann fanden wir die Quelle. Von einem Segelboot mit einer Flagge aus dem englischen Commonwealth, das direkt vor dem Restaurant ankerte, erklangen die Töne. Vielleicht schipperte es diese lauten Engländer durch die Gegend. Vielleicht gehörte es auch einem Perser. Was für ein wunderschöner Zufall.

Wir sind dann noch ein wenig durch die Gassen gelaufen, aber außer Restaurants war eigentlich nichts zu sehen. Auffallend nur, anstelle der sonst üblichen vielen freilaufenden Hunde streunten hier sehr junge und dünne Katzen umher. Der Ort lebt von der Geschichte, der Lage, von dem phantastischen Ausblick.

Jetzt haben wir wieder in unserem Hotel unsere Stullen gegessen, trinken noch das Fläschchen Rotwein aus dem Flugzeug und werden wohl bald und gut schlafen. Die Autofahrt im warmen Auto schlaucht ganz schön, auch wenn es heute nicht mehr als 137 km waren. Aber wir sind ja auch viel in der Wärme gelaufen. Während ich bis heute Mittag noch nicht richtig angekommen war, beginne ich jetzt Gefallen an der Tour zu finden. Ich freue mich nun auf die weitere Reise, während ich vorher eher das Ende herbei gewünscht hatte.



Manfred: Der erste Reisetag entlang der überaus geschichtsträchtigen Ägäis-Küste liegt hinter uns. Nach unserem einjährigen Leben im hohen Norden Europas kommt mir das Klima ungeheuer warm vor. Dabei ist Herbst und bei unserer Abreise im Norden hatten wir bereits Sorge, bei eventuellen Schneefällen unbeschadet über die nordnorwegischen Berge zu kommen. Aber heute war Schwitzen angesagt. Ab Troja, das wir zum Glück früh am Tage besuchten, begleiteten uns die ungewohnten Temperaturen. Dazu immer wieder herrliche Ausblicke über das stets bläulich schimmernde Wasser der Ägäis. Sogar ein Paris kam uns mit Ziegenherde von einem Hügel entgegen! Da standen wir gerade zur Mittagspause und anschließendem kurzen Schläfchen abseits der Straße unter einem der wenigen schattenspendenden Bäume. Vom Berg Ida kann er aber nicht gekommen sein, der liegt laut Karte noch einige Kilometer vor uns. Mir gefällt immer wieder diese karge Landschaft, auch die ungewohnte Wärme, alles erinnert mich irgendwie an südandalusische Gegenden in Spanien. Verständlich, dass diese Küste, die sogenannte Oliven-Riviera ein beliebtes Ferienziel für die einheimische Bevölkerung darstellt.

Und dann waren wir am äußersten Punkt des größten Erdteils angekommen. Das Kap Baba und der unmittelbar davor gelegene Ort Babakale gilt als westlichster Ort Asiens. Wenn man bedenkt, dass wir uns ungefähr auf der geographischen Länge von Hammerfest, Helsinki oder Bukarest befanden, reicht Asien in dieser Gegend wirklich sehr weit nach Westen. Das Kap krönte natürlich eine Festung, völlig verständlich bei dieser exponierten Lage und den über Jahrtausende währenden Auseinandersetzungen zwischen den vielen an der Gegend interessierten Völkerschaften.

Heute haben wir direkt am Wasser Quartier bezogen (vom hiesigen Hafen startete übrigens Paulus seine 3. Missionsreise), der historische Ort indem der griechische Philosoph Plato und auch sein Schüler Aristoteles im 4. Jahrhundert vor der Zeitenwende gewirkt haben, befindet sich aber unmittelbar über uns auf einem Höhenzug. Von dort (oberhalb des heutigen Dorfes Behramkale) hatte man einen wahrhaft atemberaubenden Ausblick auf die Ägäis und die nahegelegene Insel Lesbos, von der aus griechische Kolonisten das Festland besiedelten und auf der Höhe 530 v.d.Z. den berühmten Athene Tempel errichteten. Einige wieder aufgestellte Säulen kennzeichneten den Standort auf einem weitläufigen Plateau. Am höchsten Punkt wehte über allem eine große türkische Flagge, als hätte die heutige türkische Republik irgendetwas mit dieser ruhmreichen Vergangenheit zu tun.

Während wir dort oben ungestört zwischen den Steinen herum kletterten, immer auch mit Blick auf das Territorium eines anderen Staates, konnte ich plötzlich die tiefgreifenden Animositäten zwischen Griechen und Türken nachvollziehen. Einerseits sind die Türken zu verstehen, die nur schwer einsehen, dass unmittelbar vor ihrer Küste so viele Inseln zu einem anderen Staat auf der anderen Seite des Meeres gehören sollen. Nur zwei der zahlreichen Eilande vor der türkischen Küste (Gökceada und Bozcaada vor Troja) sind schließlich von Türken bewohnt.

Wenn man sich andererseits die hiesige Geschichte vor Augen führt, diese ganze Gegend war ja seit Jahrtausenden von griechischen Volksstämmen bewohnt. Bereits im 2. Jahrtausend vor der Zeitenwende sollen mykenische und kretische Siedler anwesend gewesen sein, bevor im 12. Jahrhundert v.d.Z. durch die Große Ägäische Wanderung, die griechischen Stämme der Ionier, Äolier und Dorer Kleinasien besiedelten und trotz aller kriegerischen Einfälle und Auseinandersetzungen im Prinzip auch als Einflussgebiet behielten. Erst 129 v.d.Z. änderte sich das mit Gründung der Provinz Asia (Namensgeber für den gesamten Kontinent!) durch die Römer. Ein Großteil der Kultur, die mit dem griechischen Namen in Verbindung gebracht wird, entstammt tatsächlich der hiesigen Gegend und hat nicht nur seine Grundlagen auf dem griechischen Festland. Insofern, wenn z. B. die Zionisten angeblich jahrtausendealte Ansprüche auf Palästina vor der Weltgemeinschaft durchsetzen konnten und tatsächlich ein von anderen Völkern bewohntes Territorium zugesprochen bekamen, könnte man theoretisch auch griechische Ansprüche auf Kleinasien rechtfertigen. Ich glaube, wir hatten bisher viel Glück, das keine wesentlichen Bodenschätze in diesem Gebiet gefunden wurden. Dann wäre die Welt nämlich um ein schönes Krisengebiet reicher!

Auf jeden Fall bin ich nach dem heutigen Tag rechtschaffen müde und könnte sofort ins Bett fallen. Ruhig genug wird es sein, Autoverkehr gibt es hier nicht. Ganz im Gegensatz zum gestrigen, direkt neben Hauptstraße und Tankstelle gelegenem Hotel. Nur der Wind weht heftig, wie schon den ganzen Tag über. Irgendwo stand geschrieben: "Am Wind wurde Troja reich". Die damaligen Schiffe konnten nämlich infolge ihrer Bauweise (wahrscheinlich mangels eines Kiels), noch nicht gegen den Wind ankreuzen und mussten vor der Einfahrt in die Dardanellen oft wochenlang auf die Unterbrechung der meist aus östlicher Richtung, also vom Schwarzen Meer her wehenden Winde warten. Auf Assos trifft es wohl ebenfalls zu.



1.10. Sonnabend, Monika: 9.30 Uhr on tour, nach gutem Frühstück mit Blick auf den Hafen von Assos.

10.15 Uhr: Habe das erste Mal gebadet. Im Golf von Edremit. Leider Kieselstrand und das Wasser kühler als erwartet. Trotzdem war es schön, denn draußen bzw. im Auto schwitzt man ganz schön. Beim Baden kam ein Fischerboot ziemlich dicht vorbei getuckert. Die Männer sahen starr geradeaus, ebenfalls männliche Fußgänger, die am Strand liefen. Schickliche Leute.

10.30 Uhr: Hier in der Nähe liegt der Berg Ida, wo Paris die Herden seines Vaters gehütet hat und ihm die drei Göttinnen erschienen waren.

Überall wird gebaut. Straßen, Häuser, ganze Häuserzeilen, Vororte. Heute haben wir auch endlich die Klimaanlage im Auto in Gang setzen können, da war die Wärme nicht mehr so schlimm. Die Landschaft, durch die wir fahren, ist gelbgrünes hügliges Land, mit Büschen bestanden, abwechselnd mit Ebenen voller Olivenbäume. Viele neu gepflanzte Plantagen an ansonsten karg bewachsenen graubraunen Hügeln. Oft sieht man auch neu angepflanzte Pinien. Was man wohl damit macht, fragen wir uns. Später hören wir und sehen es auch an den Ständen, dass die Kerne in Tütchen zu teuren Preisen verkauft werden. Auf den Bergen stehen wiederholt einige Windräder.

13.15 Uhr: Das war Ayvalik. Ein Ort, der bis 1920 ausschließlich von Griechen bewohnt war und Moslems nicht einmal Wohnrecht hatten. Nach dem türkisch-griechischen Krieg (1920 - 1922) wurden sämtliche Griechen rausgeworfen. Die Stadt, hat eine von griechischer Besiedelung geprägte Altstadt, kleine Gassen - und überall wohnen die "normalen" Leute, spielen Kinder, streunen Katzen (meist halb verhungerte kleine Tiere), wird Handel getrieben. Wir kauften ein Stück Schafskäse, Brot und eine halbe Melone, aßen in einem kleinen, äußerst bunt wirkenden Markt, ich ein Fleischgericht mit Reis, das ausreichend war und gut geschmeckt hat, Manfred eine Bohnensuppe mit Brot.

Jetzt sitzen wir im geparkten Auto am Hafen. Manfred, der hier Ewighungrige (weil es zum Frühstück mehr Gemüse als Wurst gibt), isst seinen Schafskäse mit Brot und krümelt das geliehene Auto voll. Ich habe auf einer Bank am Wasser ein Stück Melone gegessen, (selten eine so süße Frucht genossen, kommt ja auch direkt vom Feld) und die Reste gleich ins Wasser fallen lassen, wo schon viele Plastiktüten schwammen. Uns fehlt zum Glück nur noch ein Tisch, an dem man Picknick machen kann. Rastplätze mit Tischen (wie in den skandinavischen Ländern) gibt es hier offenbar nirgends.

Die uns begegnenden Touristen in Ayvalik sind meist Türken, die Frauen alle unverschleiert, auch ohne Kopftuch. Selbst in den ländlichen Gebieten ist das Verhältnis nur halbehalbe. Die älteren Frauen, die auf dem Feld arbeiten, tragen allerdings meist ein Kopftuch, vielleicht auch wegen der Sonne.



Manfred: Wenn der Wind früher die Orte vor den Dardanellen reich machte, so versucht es Bergama heutzutage mittels der Touristen zu werden, die das historische Pergamon besuchen wollen! Steht hier doch tatsächlich eine moderne Kabinenseilbahn, wie fast überall in den Alpen anzutreffen, im geschichtsträchtigen Gelände! Edelstahl und Glas spiegeln in der Sonne, armdicke Seile weisen den Weg auf den antiken Burgberg mit seinen bisher die Zeiten überdauernden Schätzen. Damit sich der von einer österreichischen Firma erstellte Bau auch auszahlt, wurde kurzerhand die ins alte Pergamon den Hang hinan führende Straße für den Verkehr gesperrt. Von den entlang des Weges abgestellten Autos lassen sich so noch einmal saftige Parkgebühren kassieren, dazu das Fahrgeld für die Seilbahn von 16 TL und endlich das Eintrittsgeld in die Ausgrabungsstätte in Höhe von 20 TL.

Dabei ist das alles nur durch reinen Zufall möglich geworden. Hätte der deutsche Ingenieur Carl Humann, der in der Nähe von Bergama im Jahre 1864 Straßenbauarbeiten leitete, nicht den vorbeifahrenden Eselskarren eines Bauern, beladen mit Steinen zum Kalkbrennen, näher betrachtet, wäre dieses Weltkulturerbe vielleicht für immer verschwunden. Er entdeckte unter den Steinen offensichtlich von Menschenhand behauene Stücke, kaufte sie dem Bauern ab und sandte sie zur Begutachtung nach Berlin. Diese Reliefplatten erregten natürlich Aufregung unter den Experten und führten zur Bewilligung von kaiserlichen Geldern für wissenschaftliche Ausgrabungen. Der türkische Sultan stimmte ebenfalls zu, die Buddelei begann und wunderschön erhaltene Teile des ehemaligen Zeus Altars in Pergamon wanderten nach Berlin und bilden bis heute das Kernstück des gleichnamigen Museums.

Wie lange das so bleiben wird, steht aber wohl in den Sternen. Immer häufiger hört man ja von Rückforderungen der Länder, auf deren Territorium die Dinge gefunden wurden. Wie berechtigt derartiges ist, wage ich nicht zu entscheiden. Hat der Finder einen Anspruch darauf, noch dazu wenn er die Schätze vor der Zerstörung bewahrt hat? Oder gehört es demjenigen auf dessen gegenwärtigem Grund und Boden etwas gefunden wurde, in diesem Falle also dem türkischen Staat? Aber was haben die Türken, bzw. damals die Osmanen für eine Beziehung zu den geborgenen Kunstschätzen? Zur Zeit ihrer Entstehung im 2. Jh.v.d.Z. ritten sie noch irgendwo in der zentralasiatischen Steppe herum, die Bauten sind Meisterwerke der hellenistischen, griechisch/europäischen Kultur. Ganz Kleinasien war schließlich bis zur Eroberung durch die Osmanen bzw. Seldschuken im 11. Jh. über Jahrtausende griechisch geprägt. Was wir heutzutage als griechische Geschichte wahrnehmen, spielte sich zum großen Teil hier in Kleinasien ab (siehe Plato und Aristoteles in Assos, oder die Geschichten um Troja). Hätten nun gar die Griechen einen berechtigten Anspruch auf diese Kulturgüter (vielleicht zur Linderung ihres ständigen Geldmangels)? Ich weiß wirklich nicht, für welche Variante ich mich entscheiden sollte, früher neigte ich zur Rückgabe, heute denke ich, man solle den Zustand so lassen wie er ist. So wie jeder erfüllte Wunsch neue Wünsche gebärt, schafft jede Veränderung irgendwie neue Probleme. Es muss nur sichergestellt sein, das das kulturelle Erbe der Menschheit auch der Menschheit weiterhin zugänglich bleibt. Kleinkarierte Besitzansprüche sind dann, zumal in einer globalisierten Welt, zweitrangig.



Monika: 15.30 Uhr: Das war für uns Pergamon. Um zur Ausgrabungsstätte zu gelangen, musste man eine hochmoderne Seilbahn benutzen, die Straße hinauf war gesperrt, der Parkplatz kostete und als wir auf den Berg kamen, sollten wir noch mal Eintritt bezahlen. Das war uns zu viel und angesichts der Menschenmassen, die durch den Eingang strömten, reizte es uns auch nicht sonderlich. Der schöne Altar steht ohnehin in Berlin im Pergamonmuseum. Wir sprachen vor dem Eingang mit einem Türken (auf deutsch), der nach eigener Aussage zum Stadtrat von Bergama gehörte. Unseren Frust verstand er und meinte ebenfalls, dass solch eine hochmoderne Seilbahn in einer ansonsten historischen Landschaft nichts zu suchen hätte. Auch den hohen Eintritt, den wir monierten, erklärte er uns. Man hätte begonnen, überall in der Türkei Touristenplätze zu privatisieren, so käme es zu diesen Auswüchsen. Die Eintritte dort, wo das Gelände noch dem Kulturministerium gehöre, sollen wesentlich niedriger sein als an den privatisierten Sehenswürdigkeiten. Zum Abschluss gab er uns noch einen Prospekt und seine Visitenkarte, wir sollten doch mal in die Teppichmanufaktur unten im Ort gehen, uns auf ihn berufen und uns alles erklären lassen. Nur so zur Information. Das lassen wir aber schön bleiben und fahren weiter nach Izmir. Dort soll es laut dem Türkeiführer in der Innenstadt ein sehr schönes und preiswertes Hotel geben.

Unser Navi-Ali, der schon am zweiten Tag seine Stimme verloren hat und uns nur noch stumm auf dem kleinen Bildschirm den Weg erläutert, führt uns tatsächlich bis in die Innenstadt von Izmir. Eine 5-Millionen-Stadt, ein Moloch von einer Stadt, die drittgrößte des Landes, größer als Berlin. Und wir fahren gerade während der Hauptverkehrszeit hinein! Je weiter wir in die Innenstadt kommen, umso wilder und irrer wird der Verkehr, um so voller die Stadt. Auto an Auto, wo soll man da einen Parkplatz finden? Einmal habe ich einen kurzen Blick durch zwei Häuser hindurch auf einen Fluss, der zur Kloake, zum Müllplatz verkommen ist. An seinem Ufer stehen Hütten, aus Wellblech oder Holz, aussehend ebenso wie Müllhaufen. Nie zuvor haben wir solche Müll-Slums entdeckt. Ansonsten sehen die meisten Wohnblocks ordentlich aus, ja, angenehmer als bei uns, auch farbig, kein abblätternder Putz ist zu entdecken. Die wilde Fahrt geht weiter, noch bevor man den Anblick verdaut hat. Endlich scheinen wir fast am Ziel, sehen das Hotel, brauchen nur noch nach links abzubiegen und - aber Linksabbiegen ist verboten. Also halten wir ein wenig ziellos ein paar 100 m weiter, Manfred geht zum Verkehrsschild zurück, an dem wir vorbei gefahren waren, "Halteverbot" sagt er. Als er zurück kommt, sehen wir auch schon einen Polizisten auf uns zueilen, also heißt es nur, schnell den Motor wieder zu starten und weiter zu fahren. Der Polizist lässt es gnädig zu. Unser Ali führt uns durch unmögliche und enge Gassen, bis wir es aufgeben und den nächsten Ort, Selcuk, eingeben.

Etwa 20 km geht alles gut, wir fahren auf der breiten glatten Straße nach Selcuk. Doch plötzlich weist uns das Navi nach rechts, vielleicht eine Abkürzung, denken wir. Nach Asphaltstraße geht sie bald über in einen Schotterweg zwischen Feldern. Eine kurze Zeit werden wir von zwei großen wütenden Hunden attackiert und verfolgt, kommen an einem staunenden Bauern vorbei. Nach einigen Kilometern wenden wir genervt, wieder an den noch wütenderen Hunden vorbei, am nunmehr grinsenden Bauern und sind endlich zurück auf der glatten breiten Chaussee. Was dem Ali da eingefallen sein mochte! Es ist offensichtlich, das Navigationsgerät hat schon einige Jährchen auf dem Buckel und kennt die neueren Straßen nicht!

In Selcuk biegen wir ab nach Sirince, weil Manfred in seinem norwegischen Türkeiführer gelesen hatte, es wäre dort sehr schön und es gäbe viele Pensionen. Aber wo dieser Ort liegt, weiß er nicht. Also folgen wir den Schildern - in die Berge. Inzwischen dämmert es. Auf der Straße ist viel Verkehr, worüber wir uns wundern. Als es dunkel ist und wir schon sehr unruhig werden, wann nun endlich der Ort auftauchen möge, erreichen wir ihn endlich.

Sirince hat nur 590 Einwohner, ist aber ein richtiges Touristennest. Überall sind kleine Souvenirläden, die noch bis 22.00 Uhr geöffnet haben, hauptsächlich mit Handarbeiten (im Baedeker lesen wir, dass Sirince wegen seiner feinen Handarbeiten, vor allem Spitzentücher und gehäkelte Decken, berühmt wäre), außerdem Wein-, Obst- und wieder Souvenirläden. Ein Laden am anderen. Dazwischen Hotels, Pensionen, Restaurants. Manfred geht zu einem hoch. Ich überlasse das Verhandeln und Feilschen stets ihm allein, mich der türkischen Kultur anpassend. Gleich zwei Männer stehen bereit für seine Wünsche nach einer Pension. 100 TL hört er, meint aber 60 TL wolle er ausgeben und nicht mehr und er wolle weiter sehen. Wir laufen zehn Meter weiter, da kommt uns einer der Männer nach, will unbedingt ein Zimmer zeigen. Wir werden handelseinig für 60 TL. Aber die sind noch zu viel. Ein winziges Zimmer, ein Klo und ein Waschbecken davor, kein Fernseher (den wir allerdings sowieso nicht brauchen), keine Dusche, die ich heute gern gehabt hätte. Der Mann, der sich mit Ali vorstellt, wirbt bei mir noch mit seinen tollen Früchten aus dem eigenen Garten, die er mir gerne geben würde, wenn wir nachher noch ins Restaurant kämen. Wir haben trotzdem nur wieder auf engstem Raum mit Hocker als Tisch auf dem Zimmer gegessen, sind dann durch den Ort gestreift, haben zweimal Wein verkostet (bzw. Manfred, ich wurde ignoriert), in der dritten Weinstube Wein getrunken, türkischen Merlot, den Manfred sogar zuvor probieren durfte, zur Auswahl mit einem anderen. Toller Service, finde ich! Aber geschmeckt hat er eigentlich ziemlich scheußlich.

Auf dem Rückweg kamen wir an einem Laden vorbei, vor dem 18 Katzen und ein Hund saßen.

Nun sind wir im Zimmer, das Bett hat wieder nur unzureichendes Bettzeug, so dass Manfred in den Schlafsack kriecht und ich in meinen Bettbezug. Es ist genau 22.00 Uhr. Schlafenszeit.



Manfred: Wo sind wir nur gelandet? Die Enge des Zimmerchens ist beängstigend. Wenn sich einer erhebt, muss sich der andere gefälligst setzen. Aber was soll´s, wir haben ein Dach über den Kopf, nach einem Tag, an dem vieles nicht so lief, wie es eigentlich geplant war. Meine mehr oder minder impulsive Entscheidung auf Pergamon zu verzichten, bedaure ich inzwischen. Das wird mir in der Zukunft und nach Abschluss der Reise sicher noch viel mehr Leid tun. Wann kommt man schon mal wieder in diese Gegend und dann verschmäht man einen der berühmtesten Orte an der Küste Kleinasiens. Wohlgemerkt: in der Vergangenheit! Wie war das doch gleich mit den Diadochenkriegen, mit denen wir in der Schule "beglückt" wurden? Nach Alexander des Großen frühem Tod zerstritten sich schnell seine Angehörigen, Feldherrn und Statthalter um die Nachfolge. Frau, Mutter und Sohn wurden flugs ermordet, das war offenbar das Einfachste. Dann schlug man sich in jahrelangen, blutigen Kämpfen (wozu war man schließlich Heerführer?) um das Riesenreich, was schließlich zu seiner Vierteilung führte. Das griechisch-mazedonische Balkanreich, das ägyptische Reich unter Ptolemäus, das asiatische Reich bis hin zum Indus und eben in Kleinasien das spätere pergamenische Reich mit seinem Zentrum Pergamon entstanden. Wissenschaft, Kunst und Kultur blühten in den nächsten 150 Jahren, u. a. soll auch das Pergament dort und nicht etwa in Ägypten erfunden worden sein. Der letzte kinderlose Herrscher (Attalos III) vererbte schließlich 133 v.d.Z. sein Land testamentarisch an das Römische Reich und eine neue Epoche begann, die oströmische Provinz Asia war geboren.

Auch das berühmte Smyrna, das heutige Izmir, war uns nicht vergönnt. Zu gern hätte ich mir einige Überreste angesehen, schließlich war es die Stadt in der Homer 750 bis 725 v.d.Z. gelebt hat. Es war aber ausgerechnet zur Feierabendzeit völlig unmöglich, irgendwo in diesem brodelnden Durcheinander auch nur einen Platz zum Anhalten zu finden. Dabei hatte ich sogar die Adresse eines Hotels im Navi, Ali führte uns schön brav daran vorbei. Leider auf der anderen Straßenseite! An Wenden war, selbst unter Missachtung aller bekannten Verkehrsregeln (wie in der Türkei ansonsten üblich), nicht einmal zu denken. Deshalb also die Übernachtung in diesem Touristennest in den Bergen in der Nähe von Selcuk.

Mit dem Auto hatte ich heute au ch ein Problem, aber nun kennen wir uns ein bisschen besser. In einer Kurve der Küstenstraße rutschte ich beängstigend nach außen und konnte das Wägelchen erst nach gefühlt langer Zeit unter Kontrolle bringen. Vielleicht lag auch feiner Sand auf der Fahrbahn, ich weiß es nicht genau. Übermäßig gefährlich scheint es aber nicht gewesen zu sein, die ansonsten recht kritische Frau hat geschwiegen, also nichts von der Rutschpartie mitbekommen. Doppeltes Glück gehabt!

Morgen steht nun Ephesus auf dem Plan. Wieder ein berühmter Ort der Vergangenheit und bis zum 2. Jh. die Hauptstadt der "geerbten" oströmischen Provinz Asia. Was man nicht früher alles erben konnte. Es scheint mir aber recht untypisch zu sein. Meistens wurde und wird, wie auch heute noch, erbittert um Land gekämpft und da soll jemand das Land sogar an ein ganz anderes Volk vererbt haben? Was täte ich nur, wenn mir jemand ein ganzes Land übertragen würde? Die Wahrscheinlichkeit von lieben Freunden und Verwandten umgebracht zu werden, stiege jedenfalls beängstigend! Hoffentlich geht es uns nicht so wie mit der Millionenmetropole Izmir, allerdings soll das heutige Selcuk (das historische Ephesus) nur rund ein Zehntel der damaligen Einwohner aufweisen.



2.10. Sonntag, Monika: 9.40 Uhr: on tour von Sirince nach Selcuk/Ephesus. Es gab ein reichhaltiges Frühstück auf der Terrasse des Restaurants. Der Tisch war voller Schälchen mit Marmelade, Eiern, Oliven, Tomaten, Gurken. Ein schöner Platz zum Frühstücken, ringsum Berge, die Wohnhäuser sind den Berg hinauf angelegt, die Sonne schien auf unseren Frühstücksplatz. Was will man mehr.

Als wir den Ort verlassen, erscheinen die ersten Busse, die ersten Gruppen Japaner sind auf dem Weg. Was wollen die alle hier? Doch nicht nur Handarbeiten kaufen, oder? Die Straße hinunter in die Ebene kommen uns viele Autos, Kleinbusse und große Busse entgegen. Seltsam. Da helfen sich die Reiseveranstalter wohl gegenseitig.

14.15 Uhr: Das war Ephesus. Der Ort war schon in der Antike eine Weltstadt mit 200.000 Einwohnern, hatte einen bedeutenden Hafen und gehörte zu den großen antiken Seehandelszentren. Als eines der sieben Weltwunder zog der Tempel der Artemis schon zu Cäsars Zeiten viele Touristen in die Stadt. Allerdings schufen die Ablagerungen des nahen Flusses große Probleme, so dass das Meer und somit der Hafen sich immer weiter von der Stadt entfernte. In der Gegenwart ist vom Meer nichts mehr zu sehen, es ist viele Kilometer entfernt, der Schwemmsand hat die Stadt von ihrem Hafen getrennt und somit versank auch Ephesus nach und nach in die Vergessenheit. Es wurde verlassen und von Flussablagerungen zugedeckt.

Für uns war der Ort ein riesiger Touristenrummel. Busladungen voller Touristen, meist Japaner und von Cruise-Schiffen hergeschaffte Gruppen. Es gab aber viel zu sehen, Reste von Gebäuden, die Fassade der berühmten Celsusbibliothek, Hanghäuser. Aber bei genauem Hinsehen, oft musste man das nicht einmal tun, zeigte sich, dass kaum etwas ursprünglich Altes steht, alles ist restauriert, wieder aufgebaut, wobei die Säulensteine auch hier nicht immer exakt übereinander passten. Für uns ein wenig enttäuschend. Natürlich sind die Steine echt und alt, aber die Zusammenstellung, der Beton dazwischen, der störte uns.

An einem Hang war ein moderner Bau errichtet, eine Art metallisches Zelt, das antike Hanghäuser schützen sollte. Das passte nun, ähnlich der Seilbahn in Pergamon, überhaupt nicht in diese Landschaft voller Altertümer. Wir verzichteten auf die Ansicht, zumal wir durch die Hitze schon völlig ausgedörrt waren. Immerhin sind wir vier Stunden unter intensiver Sonneneinstrahlung durch Ephesus gewandert.

Auf dem Parkplatz wollte uns unbedingt noch ein Türke Dinge verkaufen, wie Münzen, die er privat ausgegraben hätte. Ganz abgesehen, dass man nichts Antikes mitnehmen darf, wird vor diesen Händlern gewarnt, weil nichts von den alten Dingen echt wäre. Also sagten wir freundlich und bestimmt nein und damit war das auch für ihn in Ordnung.



Manfred: Ein sehr langer und ausgiebiger Sonntagsspaziergang im historischen Ephesus liegt hinter uns. Die Anlage habe ich aber insgesamt eher enttäuschend gefunden (vielleicht waren auch die Erwartungen zu hoch). Kernpunkt ist einfach die Frage, wie man solche alten Stätten präsentieren sollte. Alles mehr oder weniger so belassen wie es gefunden wurde, das Original, die Authentizität also weitgehend in den Mittelpunkt stellen oder versuchen es so aufzubauen, wie es einst gewesen sein könnte und die Originale irgendwo in Sicherheit zu bringen. Eine schwierige Frage, ich glaube zu ersterem zu tendieren, obwohl ich mir keineswegs sicher bin. Nehmen wir nur das Beispiel der Celsusbibliothek. Beim ersten Anblick aus der Entfernung ein richtiges Ahh-Erlebnis, steht doch ein scheinbar antikes Gebäude in einer Landschaft aus Steintrümmern vor einem malerisch mit einzelnen Bäumen und Büschen bewachsenem Hang. Man hat den Eindruck eines noch tatsächlich erhalten gebliebenen Bauwerks. Näher gekommen sieht man an seinem Fuße ein ameisenähnliches Gewimmel von Menschen aller Erdteile ((auffallend wieder einmal Japaner mit Fotoapparat und Mundschutz) und das vermutete Gebäude entpuppt sich aus der Nähe lediglich als rekonstruierte Fassade der berühmten Bibliothek. Aufgebaut wurde sie 1970 bis 1974 von österreichischen Archäologen. Bei näherem Hinsehen entdeckt man verbindende Stahlträger und Beton zwischen den originalen Steinen. 850 Stück sollen es übrigens sein, wie irgendwo zu lesen war. Ursprünglich errichtete die Bibliothek im Jahre 117 der römische Konsul Gaius Julius Aquila zu Ehren seines Vaters Julius Celsus, Statthalter des oströmischen Reiches, der auch darin beigesetzt wurde. Lesestoff im Jenseits hatte er da ja zur Genüge! Die Fassade ist wirklich beeindruckend mit Ornamenten geschmückt, die gesamte Konstruktion wirkt recht filigran. Die ursprünglich in den äußeren Nischen vorhandenen Statuen sind aber lediglich Kopien, um die Originale zu betrachten, müssten wir mal kurz nach Wien reisen. Die Statue des Bauherren ist nicht ganz so weit entfernt und befindet sich im Istanbuler Museum.

Irgendwie ist es wie mit den Höhlenzeichnungen im französischen Lescaux. Da die Jahrtausende alten Farben unter den Ausdünstungen der vielen Besucher zu leiden begannen, erschloss man ganz in der Nähe eine weitere Höhle und fertigte die Zeichnungen millimetergetreu neu an. Dort werden jetzt die Menschen durchgeschleust. Monika hat sie sich angesehen und war vollauf begeistert, ich bin nicht einmal mit in die Höhle gegangen und hatte mir lieber die Umgebung angesehen, um wenigstens einen Eindruck davon zu haben, was die Leute vor 40.000 Jahren wohl für eine Aussicht hatten. Es ist wirklich ein Balanceakt mit derartig wertvollen und unwiederbringlichen Kunstwerken. Alle wollen sie sehen, aber für unsere Nachfahren müssen sie auch erhalten bleiben.

Sehr schön erhalten bzw. wiederaufgebaut war neben der Bibliothek das Markttor, durch das man die untere Agora (Marktplatz) von Ephesus betreten konnte. Es soll laut einer Inschrift zum Dank von zwei freigelassenen Sklaven erbaut worden sein. Die mussten damals von ihrer Sklavenarbeit ganz schön viel Geld zurückgelegt haben! Irgendwie hatte ich bisher ein etwas anderes Verständnis von Sklaverei.

Auch die Toilettenanlage der Stadt konnte man besichtigen. Ich nehme jedenfalls an dass es sich um eine öffentliche Anlage handelte, wer hat schon in seinem Wohnhaus an die zwanzig Toilettensitzplätze - nebeneinander wohlgemerkt! Ich stelle es mir gewöhnungsbedürftig vor, aber andere Zeiten - andere Sitten. Allerdings, wenn ich an meinen Wehrdienst in der Volksarmee der DDR denke, da waren die Plätze ja auch offen und man konnte sich mit den Nachbarn gemütlich unterhalten. Vielleicht meinen das manche Nostalgiker, wenn sie von der zwischenmenschlichen Wärme im Sozialismus reden und die angeblich gute Kameradschaft und Solidarität unter den damaligen Menschen rühmen!

Geschichtlich bedeutsam war in Ephesus auch die Marienkirche, wo im Jahre 431 das Dritte Ökumenische Konzil stattfand, das Maria zur Gottesgebärenden erklärte. Was es nicht alles gibt! Da hat die Kirche also die Theorie um die Jungfrau Maria über 400 Jahre nach Christi Geburt erst einmal verfeinert oder überhaupt erst geschaffen. Ist ihr eigentlich ziemlich spät eingefallen, dabei soll sogar Paulus von 55 bis 58 in Ephesus gepredigt haben. Was der wohl für eine Theorie verbreitet hat? Da würden wohl manch heute praktizierendem Christen eventuell die Haare zu Berge stehen. Immerhin bestand das Christentum schon einige hundert Jahre und fand Verbreitung in vielen europäischen und anatolischen Gegenden. In Ephesus hat man wohl (zumindest bis zum Konzil), wie überhaupt in Anatolien der Göttin Artemis als Göttin der Jagd und Beschützerin wilder Tiere, Kinder und aller Schwachen besonders gehuldigt und in der Jungfrau Maria eventuell eine, wie auch immer geartete Inkarnation der Göttin gesehen. Von der Kirche, in der das Konzil stattgefunden hatte, war nur ein Ruinenfeld übrig. Dennoch haben die seltsamen Beschlüsse sogar die Steine überlebt!

Wir gingen dann noch ein Stück auf der Hafenstraße, sie führte einst vom großen und noch relativ gut erhaltenem Theater (im 1. Jahrhundert von Kaiser Trajan erbaut), bis hin zum damaligen Hafen. Jetzt endete sie im Nichts. Es ist immer wieder faszinierend auf solch alten glattpolierten Steinen zu laufen, auf denen schon vor 2.000 Jahren Menschen gegangen sind, sie abgetreten haben. Auch in anderen alten Bauwerken z. B. Kirchen schenke ich immer zuerst dem eventuell originalen Fußboden meine Aufmerksamkeit, während andere Besucher meistens den Blick wie gewünscht nach oben richten und die fast immer gleichen oder ähnlichen heiligen Bilder und Figuren bewundern.

Überall zwischen dem antiken Geröll in Ephesus streunten während unseren Besuches Tiere herum, meistens Katzen. Am Fuße des Theaters war allerdings ein Hund in eine Spalte gefallen und kam nicht allein heraus, er jaulte jämmerlich, eine Gruppe von Touristen scharte sich um die Öffnung, die Stimme bekommen hatte - ob sie es schafften, ihn wieder ans Tageslicht zu befördern? Wir warteten das Ergebnis nicht mehr ab. Tat uns Leid, das arme Vieh, falls es dort verschmachten sollte.



Monika: Beim Weiterfahren sehen wir wieder Baumwollfelder, sehr große diesmal. Zuvor waren immer Frauen auf den Feldern gewesen und hatten die Büschel gepflückt und in große Säcke gestopft, jetzt erleben wir zum ersten Mal Baumwollerntemaschinen im Einsatz und die Ränder an den Straßen sind voller weißer Büschel (was bei der Handarbeit nicht der Fall gewesen war).19.10 Uhr: Priene war für mich bisher der schönste antike Ort. Auch eine Ausgrabungsstätte, etwa 30 km von Ephesus entfernt. Nachdem uns Navi-Ali wieder falsch geführt hatte und wir es schon aufgeben wollten, hierher zu fahren, sind wir dann doch noch richtig gelandet. Angenehm fiel sofort auf, dass der Eintritt lediglich 3 TL (plus Parkgebühr 3 TL) kostete, und dass wir nahezu allein waren. Dabei konnte man so vieles sehen und so vieles wirklich Originales. Dieses sehr große Ausgrabungsgebiet wird von Deutschen gefördert und betrieben, so dass die Erklärungen immer auch in Deutsch waren, was uns natürlich gut gefiel. Schon die Treppe vom Parkplatz zum alten Ort hinauf war faszinierend, da fanden sich riesige Steine, die teilweise über zwei Stufen gingen und nur ausgehauen waren. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Und dann lagen überall Säulenstücke, fanden sich Hausfundamentreste. Plötzlich standen wir vor einem vollständig erhaltenen offenen Sitzungssaal mit Steinbänken und einem Rednerpult aus Marmor in der Mitte (wo Manfred sogleich als Abgeordneter posierte), daneben auch gut zu erkennen der Repräsentationssaal des Stadtoberhauptes mit einem ummauerten Ofen für das ewige Feuer. Interessant auch das Theater mit den prunkvollen Steinsesseln für die Würdenträger in der 1. Reihe. Natürlich setzte man sich darauf, dort trafen wir dann auch ein paar türkische Touristen. Die wenigen Besucher sah man immer wieder und grüßte sich mittlerweile. Ja, hier war noch all es echt, keine verändernden Restaurationsarbeiten. Ich nahm mir eine kleine Scherbe, einen Teil eines Keramiktopfes, o. ä. mit. Was natürlich streng verboten ist, aber da lag so viel auf der Erde, wo man einfach nur drüber trat.

Als wir zum Eingang kamen, stand dort nicht einmal mehr eine Wache. Wir fuhren zurück in den Ort und steuerten die erste Pension an, sogar mit Swimming-pool. Nach zähen Verhandlungen und Feilschen bekam Manfred ein Zimmer für 85 TL und ein Gratisbier dazu. Ich tauchte sofort erst mal in den Swimmingpool. Das war eine Erfrischung nach dem heißen Tag. Die Pension liegt direkt an einer kleinen Moschee (Manfred fotografierte mich, als ich nur mit Badeanzug bekleidet, aus dem Wasser steige, im Hintergrund die Moschee - Pfui!).

Überhaupt wirkt hier noch alles sehr europäisch auf uns. Nur wenig Frauen mit Kopftuch, und wenn, hauptsächlich in ländlichen Gebieten. In Berlin, Tromsö oder gar Finnsnes trifft man unter den Moslems mehr kopftuchtragende Frauen als hier. Ich fühle mich bisher jedenfalls nicht ausgegrenzt. Sicherlich, weil wir uns noch in touristischen Gebieten aufhalten. Auffallend: der Fernseher läuft immer und überall, jetzt nebenan schön laut auf der Terrasse des Pensionsrestaurants.

Während ich dies schreibe, röhren plötzlich die drei Lautsprecher der direkt gegenüberliegenden Moschee knatternd los, und wir sehen den Pensionschef eilig in den Gebetsraum gehen. Morgen früh um 6.00 Uhr werden wir wieder geweckt werden.