Leseprobe:
 

Schwester Bärbel kreischt laut, stürzt aus der Tür und rennt den Flur entlang, noch immer kreischend.

Auf den Sesseln und Stühlen sitzen die alten Leute wie zuvor, als hätten sie sich gar nicht zum Essen fort begeben.

Sie sehen der Schwester hinterher, erheben sich nach einigem Zögern, einer nach dem anderen, ächzend, stöhnend und schlurfen zur offen gebliebenen Tür. Sie sind nicht schnell genug. Denn bevor noch der erste die Tür erreicht hat, rennen Heimleiter Hase und Schwester Bärbel an ihnen vorbei.

Die Schwester schreit nicht mehr, atmet aber seltsam schwer und keuchend. Vor der offenen Tür bleibt sie plötzlich stehen, sieht zur Seite, auf die heranschleichenden Alten, sieht dem Heimleiter nach, der ins Zimmer getreten ist und schließt ganz schnell die Tür. Von draußen. Bleibt davor stehen, die Arme ausgebreitet, als wolle sie niemanden hineinlassen oder aber, als getraute sie sich selbst nicht hinein. Man könnte meinen, es ist beides. So sehen es jedenfalls die Alten, und so erzählen sie es später jedem, der nicht dabei gewesen ist. Denn Beobachten haben sie im Laufe der Zeit gelernt. Sie halten Abstand zu der Schwester.

"Fritz ist gestorben", sagt Herr Walter.

"Wenn Fritz gestorben wäre, würde die da nicht so schreien", sagt Frau Mücke.

"Vielleicht würde sie lachen oder sich sonstwie freuen, aber nicht schreien", sagt die Frau neben ihr.

"Wenn einer im Heim stirbt, schreit keiner", meint Frau Mücke, "da müßte zu oft einer schreien."

"Nana", sagt Herr Walter. "Aber vielleicht hat sie eine Maus gesehen."

"Dafür wird sie nicht den Hase holen", erklärt Frau Mücke bestimmt. "Wo der doch schon Feierabend hatte."

Die Schwester steht vor der Tür, hört nicht, was gesprochen wird, versucht es gar nicht erst. Sie sieht aus, als hätte sie ein Gespenst erblickt. Totenbleich.

Als der Heimleiter nach kurzer Zeit wieder aus dem Zimmer kommt, sieht sie ihm ängstlich entgegen.

Er sagt zu den alten Leuten: "Gehen Sie bitte alle in Ihre Zimmer."

Und zur Schwester: "Sie passen so lange auf."

Das so lange gibt wieder Anlaß zu Spekulationen, aber die können sie nun nicht mehr loswerden, zumindest nicht mehr auf dem Flur. In den Zimmern wird heftig und laut geredet, nicht mehr jeder hat ein gutes Gehör. Aber jeder möchte wissen, was los ist, und jeder soll es erfahren. Bloß was?

Schwester Bärbel zieht einen schiefen Mund, setzt sich dann aber auf einen der modernen Sessel, möglichst weit entfernt von der nun wieder geschlossenen Zimmertür Fritz Krämers. Das bemerken noch einige der alten Leute, bevor sie endgültig in ihren Räumen verschwinden.

Nur Herr Walter steckt noch einmal seinen Kopf durch die Tür.

"Ist was mit Fritzen?" fragt er die Schwester, die direkt neben seiner Tür sitzt.

Bärbel zögert, doch dann schüttelt sie den Kopf.

"Ich darf nichts sagen."

Was die Angelegenheit noch spannender macht. So etwas hat es bisher noch nicht gegeben.

Noch einmal steckt Herr Walter seinen Kopf durch die Tür.

"Hat sich Herr Krämer aufgehängt?" Die Frage kommt ihm selbst ungeheuerlich vor, vor allem, weil der Fritze Krämer ja wahrlich nicht der Typ für so was ist. Aber ist das ein Grund, ihn gleich so anzuschreien? Schwester Bärbel ist wohl wirklich einem Gespenst begegnet.

Indes sitzt der Heimleiter wieder an seinem Schreibtisch. Er hat den Telefonhörer in der Hand, wählt eine Nummer und sieht finster auf den Apparat.

‘Was muß dieses dumme Huhn auch schreiend und flatternd durch den Flur jagen’, denkt er zornig, ‘niemand hätte etwas zu bemerken brauchen.’

Endlich meldet sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung.

"Hier ist das Seniorenheim Abendfrieden. Bitte schicken Sie jemanden. Ein Mord ist geschehen", sagt er.