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Leseproben:
 
 
Erzählung 1: Christinas Männer im Schnee

"Ich war das erste Mal bei einer sogenannten Aktion dabei Punkt Es muss im Mai 1989 gewesen sein Punkt Man bekam Bescheid von wer weiß wo und viele wussten also Komma dass in einer Kirche ein Gottesdienst stattfinden würde Komma um die Jugendlichen zu stützen Komma die aus einer Erweiterten Oberschule Komma heute würde man sagen Gymnasium Komma rausgeflogen - "
"Nicht so schnell, Mutter, ich komm ja nicht mehr mit." Das Schreibmaschinengeklapper, das die Sätze der Vortragenden begleitet hatte, verstummt.
Christina Büttner reagiert aufgebracht. "Wenn du mich immer unterbrichst, komm ich ganz aus dem Konzept."
"Aber du sprichst zu schnell", klagt Manuela.
"Wo bist du?" fragt Christina brüsk.
" - heute würde man sagen Gymnasium, rausgeflogen - "
"Hast du das Komma hinter Gymnasium nicht?"
Manuela stöhnt leise auf.
"Was gibt's denn da zu stöhnen? Sagst du nicht immer, dass du es gerne machst?"
Sie hört alles, denkt Manuela, warum nur ist sie nicht auch ein bisschen taub? "Natürlich, aber du musst langsamer sprechen. Außerdem brauch ich deine Interpunktionsanweisungen nicht. Ich hab's gelernt, bin schließlich Bürokauffrau."
Christina lacht. "Bürokauffrau? Nennt man das jetzt so? Was verkaufst du denn?"
Wieder stöhnt Manuela. "So heißt das eben jetzt."
"Bürokauffrau. Ich lass mir das auf der Zunge zergehen. Früher hieß es Stenotypistin. Da will man jetzt wohl wieder mehr das Deutsche fördern. Büro- naja. Also - "
Die Schreibmaschine beginnt zu klappern. "Aber das doch nicht", schreit Christina, "gib dir ein bisschen Mühe. - Ja, also, - heute würde man sagen Gymnasium Komma rausgeflogen sind Komma weil sie eine kritische Wandzeitung hergestellt Komma vielleicht das Symbol Schwerter zu Pflugscharen verwendet hatten Punkt Entschuldige, dass ich die Komma weiter ansage, aber ich hab's mir jetzt so eingelernt, morgen lass ich das. Jetzt weiter im Text: In der Kirche sollte Pfarrer Eppelmann sprechen Komma ein oppositioneller Pfarrer Komma der später in der ersten frei gewählten DDR-Regierung Verteidigungsminister wurde und die Abwicklung der Volksarmee vorzunehmen hatte Punkt Kennst du den eigentlich noch, Manuela?"
"Hä? Was? Das letzte auch?"
Christina spricht langsam und beherrscht: "Ich hab dich gefragt, ob du noch Rainer Eppelmann kennst."
"Wer soll das denn sein?"
"Schreibst du nur oder hörst du auch zu?"
Manuela schweigt. Was soll sie sagen, ohne die Schwiegermutter zu kränken? "Ich weiß nicht, der Name kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher."
"So schnell geht das", sagt Christina. "Für uns war das damals ein wichtiger Mann, oppositioneller Pfarrer, führende Figur beim Runden Tisch im Winter 1989/90 und ihr jungen Leute kennt ihn nicht einmal. Aber vermutlich ist es deshalb auch so wichtig, dass ich das hier schreibe - "
"Du?", fragt Manuela.
"Du natürlich, entschuldige, du bist jetzt immer so empfindlich. Wo waren wir?"
"Ich bin bis Verteidigungsminister wurde und die - "
Christine murmelt halblaut den Text vor sich hin und diktiert dann weiter:
" - Abwicklung der Volksarmee vorzunehmen hatte Punkt Ich bin mit Walter zur Kirche Komma beide waren wir ein wenig ängstlich Komma öffentliches Aufbegehren nicht gewohnt Punkt Die Kirche war bis auf den letzten Sitzplatz besetzt Komma auch auf den Stufen saßen Leute Komma überall Komma wo es noch ein freies Plätzchen gab Punkt Ich erinnere nicht mehr die Rede des Pfarrers Komma nur an den Schluss - "
"Du rast schon wieder so, Mutter. Wer soll denn da mitkommen."
Jetzt stöhnt Christina genervt auf. "Ich glaub, wir hören heute am besten auf. Wir können beide nicht mehr."
"Ich lass die Seite in der Maschine", sagt Manuela und man kann ihr die Erleichterung anhören, "sie ist ja noch nicht voll."
"Leider, wir haben das Soll nicht erfüllt. Ich weiß, dass es anstrengend für dich ist, aber ich lerne den Text jeden Abend auswendig, und wenn ich dann aus dem Tritt komme, vergess ich ihn, und alles war umsonst. - Ich mach dir noch einen Kaffee und dann erzähl ich dir, wie es an diesem Nachmittag vor mehr als zwanzig Jahren weiter ging. Du musst doch neugierig sein."
Christina geht in die Küche und niemand hätte ihr angesehen, dass sie vollkommen blind ist.
Manuela streckt sich, rollt die Schultern, sie sind ein wenig steif geworden, wie immer, wenn sie hier sitzt und den von der Schwiegermutter diktierten Text schreibt. Es war ja nie mehr als eine Seite, aber immer fühlte sie sich verkrampft. Das ging ihr im Büro nicht so, selbst wenn sie zehn Seiten hintereinander geschrieben hatte. Vielleicht lag es auch an der alten Klappermaschine. Wenn Christian der Mutter und damit ihr einen PC schenkte? Er hatte mit derlei wenig im Sinn, aber sie war elektrische Geräte gewöhnt, sodass die mechanischen Hebel der alten Maschine ihr Hand- und offenbar auch Rückenprobleme bescherten.
Aus der Küche ruft Christina: "Du hast mir wieder meinen großen Silberlöffel versteckt. Ich finde alles, wenn es am richtigen Platz liegt. Gib dir doch ein bisschen Mühe."
Manuela schneidet ihr eine Grimasse und steht auf. "Ich muss wieder los, Mutter, morgen um die gleiche Zeit bin ich wieder hier."
"Aber nun hab ich den Kaffee doch schon fast fertig", ruft Christina enttäuscht. Als sie mit dem Tablett, auf dem zwei Tassen stehen, eine Zuckerschale, ein Milchkännchen und ein Tellerchen mit vier Keksen, in die Stube kommt, ist Manuela bereits gegangen.
Christina ärgert sich und denkt. Sie hat keine Lust dazu. Es ist ihr zu viel Arbeit. Aber Christian hat doch gesagt, dass es wichtig ist, dass ich das aufschreiben soll. Überhaupt mein ganzes Leben, wir sind doch schon so weit, haben schon über 40 Jahre hinter uns gebracht. Wenn ich es nur allein könnte, ach, man ist zu nichts mehr zu gebrauchen, nicht mal dazu, seine Erinnerungen loszuwerden. Jetzt die Wende. Das muss sie doch interessieren. Es war so eine große Zeit, die größte, die beste vielleicht, die Deutschland je erlebt hat, und ich war dabei gewesen, sehenden, ja vor allem sehenden Auges, ich habe gefühlt, dass es etwas ganz Großes ist, alle, oder fast alle haben es gespürt und diese Euphorie, die hat so lange angehalten, monatelang. Ich bin aufgewacht und hab mich gefreut, war neugierig, was der neue Tag bringen würde und er brachte ja immer wieder eine Neuigkeit und fast immer eine gute. Das ging wirklich monatelang so, und es ist doch nicht vermessen, wenn man das weitergeben will. Aber wie es angefangen hatte für mich, das da in der Kirche, an die Rede von Eppelmann habe ich wirklich keine Erinnerung, aber dann zum Schluss, wie die Martinshörner um die Kirche klangen, es hörte sich doch an, als hätten sie mit ihren Mannschaftswagen die Kirche umstellt, ich hatte solche Angst, im Gefängnis zu landen oder gar geschlagen zu werden, und als wir raus kamen war da - nichts. Die hatten die ganze Aktion nur veranstaltet, um uns zu verunsichern, um uns Angst einzujagen, was sie ja bei mir auch geschafft hatten, sogar Walter hatte Angst gehabt, das hat er mir später gesagt, ich wollte es doch noch Manuela erzählen, immer hat sie es eilig, wieder weg zu kommen. Christian scheint ja interessiert an meiner Vergangenheit zu sein, naja, ist eben der eigene Sohn, dabei war der ja auch nur Vierzehn, als die Wende kam, aber Manuela, die scheint völlig uninteressiert. Vielleicht täusch ich mich auch. Eigentlich muss es sie interessieren, ist ja auch ihre Vergangenheit, vermutlich hatte sie wirklich noch was vor. Na, morgen beenden wir diese Erinnerung, dann erfährt sie es sowieso. Und dann geht's weiter.


Manuela ist den Weg bis zu ihrer Wohnung gelaufen. Zu Fuß zu gehen, ist sonst nicht ihre Stärke, aber wenn sie von der Diktierstunde kommt, wie sie die Zeit bei der Schwiegermuter stets respektlos nennt, hat sie das Bedürfnis, sich ein wenig auszulüften, wie sie Christian später erklärt. Aber er ist noch nicht zu Hause, vermutlich muss er wieder länger arbeiten. Wann soll er je diese vielen Überstunden abbummeln, denkt sie, aber nun ist sie froh, wenigstens noch einen Moment allein sein zu können. Kaum hat sie die Jacke abgelegt, setzt sie sich in einen Sessel, schließt die Augen, genießt die Stille. Wenn sie bloß schon fertig wäre mit der Schreiberei, aber wird es überhaupt einen Abschluss geben können? Die wird immer wieder etwas Neues erinnern, immer wieder etwas finden, was unbedingt der Nachwelt erhalten bleiben muss. Sie stöhnt gequält auf.
"Warum stöhnst du?"
Manuela zuckt erschrocken zusammen. Obwohl es so still in der Wohnung ist, hat sie Christian nicht kommen gehört. War sie etwa kurz eingeschlafen?
"Du schleichst dich immer an, als wolltest du mich bei irgendwas überraschen."
Christian lacht. "Ich habe dich beim Schlafen überrascht."
Manuela hat keine Lust darauf einzugehen, obwohl sie ganz sicher ist, nur einen Moment -
"Musstest du wieder länger arbeiten?"
Christian beugt sich über sie und gibt ihr einen Kuss.
"Du stinkst nach Bier!"
"Genau. Thomas ist wieder Vater geworden. Er hat in der krummen Ecke noch 'ne Runde geschmissen."
"Du hast es gut." Manuela hat wieder die Augen geschlossen.
"Gibt's was Neues?"
"Ich will nicht mehr. Sie wird immer so zänkisch, wenn ich nicht schnell genug bin, und dann der ganze alte Kram, wen interessiert denn das noch. Schnee von gestern."
Christian hockt sich auf die Sessellehne und fasst seine Frau um. "Du weißt doch, wie wichtig es für sie ist. Sie braucht was. Erinnerst du dich nicht, als sie vor vier, ist das wirklich schon vier Jahre her oder? Ja, das war, als ich im Verlag angefangen habe, genau, das ist fast auf den Tag vier Jahre her, und - "
"Ich weiß das alles, sie wollte sich das Leben nehmen, weil sie plötzlich blind geworden war, es war so schrecklich, wie kann ich das vergessen, aber manchmal denk ich, wenn sie im Pflegeheim wär - "
"Manuela! Das ist nicht dein Ernst!"
"Da wär sie nicht einsam, hätte Gesellschaft, könnte ihre Geschichten anderen alten Leuten erzählen. Oder interessiert dich das etwa? Diese großartige Zeit, wie sie immer sagt?"
"Bis auf das mit den Augen ist sie noch sehr gut drauf, sie kann sich allein versorgen, braucht kein Pflegepersonal. Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. Da will ich keine Diskussion drüber."
Das kommt so bestimmt, dass es keinen Sinn hat dagegen zu streiten, das weiß Manuela von vergangenen Diskussionen. "Aber warum gerade schreiben?"
"Und wenn du ihr wieder was vorlesen würdest? Oder Hörbücher! Das wär doch was!"
Manuela lacht gequält auf. "Sie will allein lesen, sagt sie, oder gar nicht. Und diese Memoiren wären genau das richtige, das würdest du auch immer sagen. - Ach, hättest du ihr bloß nicht diesen Floh ins Ohr gesetzt."
"Ist das so - so uninteressant?"
"Was ich schreibe, ist völlig egal. Für mich jedenfalls. Aber sie wird so schnell ungeduldig, und das macht die ganze Sache so quälend und dann diese alte Maschine, wenn du vielleicht einen PC - "
"Unsinn, 'n Haufen Geld für die eine Seite am Tag, die wirst du wohl noch schaffen."


***


 
 
Erzählung 2: Der Aus(f)bruch

Schon am Morgen hatten sie aufs heftigste gestritten. Das kam in den letzten Jahren nicht so selten vor. Ihr Verhältnis war zunehmend angestrengter geworden. Aber diesmal war er zu weit gegangen. Sie hatten sich schweigend nach diesem heftigen Streit, der wie meist durch irgendeine Kleinigkeit ausgelöst worden war, am Frühstückstisch gegenüber gesessen, ihre Augen auf die Hantierungen mit dem Frühstück gerichtet. Doch plötzlich hatte er sie angesehen und etwas wie Hass klang aus seiner Stimme, als er sagte: "Ich kann dich nicht mehr sehen. Du bist ein fettes altes streitsüchtiges Weib geworden. Ich ertrag dich einfach nicht mehr." Dann war er aufgestanden, ohne etwas vom Tisch zu räumen, wie üblich, was sie auch zunehmend ärgerte, hatte seine Jacke genommen, dem Hund gepfiffen und war zu seinem täglichen Spaziergang aufgebrochen, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen. Es war der 23. April.

So lange sie seine Hantierungen vernahm, hatte sie wie versteinert gesessen, der Satz Ich kann dich nicht mehr sehen kurvte in ihrem Kopf und sie dachte immer wieder: Diesmal ist er zu weit gegangen. Dann sprang sie auf, sah auf die Uhr. Sie hatte genau noch 35 Minuten Zeit, sein Spaziergang dauerte täglich exakt 40 Minuten. Wenn er von irgendeinem Hundeliebhaber aufgehalten wurde und dadurch 42 oder gar 43 Minuten brauchte, ärgerte er sich. In dieser Hinsicht war er ein Pedant, das hatte alles so zu geschehen, wie es gewohnt war, wie er es wollte und nicht anders. Also noch oder nur noch 35 Minuten, um ihn von ihrem Anblick zu erlösen. So dachte sie und rannte durch die Stuben, packte in Hast zusammen, was sie glaubte gebrauchen zu können oder zu müssen, besann sich dann einen Augenblick, rannte in den ersten Stock, zerrte aus dem abgewrackten Schrank, in dem die Campingausrüstung schlummerte, ihre Fahrradtaschen, warf in Windeseile von der bereits gefüllten Reisetasche in die Fahrradtaschen. Ein Blick auf die Uhr, noch 20 Minuten. Sie zwang sich zur Ruhe. Checkte ihre Papiere, Pass, EC-Karte, Portemonnaie. Sie brauchte nicht hinein zu sehen, um zu wissen, dass zu wenig Geld drin war. Deshalb nahm sie aus seiner Brieftasche die VISA-Card, die EC-Karte, auf die sie beide eine Unterschriftsberechtigung hatten, stand unschlüssig vor den Büchern, griff sich schließlich von Max Frisch den Stiller, von Wolfgang Borchert und von Franz Kafka Erzählungen. Die alte Frage, welche Bücher würde man mitnehmen auf eine einsame Insel, stellte sich ihr nur flüchtig, sie hatte keine Zeit, genauer nachzudenken. Bücher konnte man jetzt zu jeder Zeit an jedem Ort kaufen. Sie rannte noch einmal in ihren Arbeitsraum, griff den USB-Stick, auf dem sie alles wusste, was ihr auf dem Computer wert gewesen war zu speichern, hätte gern die Festplatte auf dem PC gelöscht, doch dazu war keine Zeit mehr. Noch 8 Minuten. Sie griff nach dem Handy, das wie immer auf dem Küchentisch lag. Doch nach einem Augenblick der Besinnung, legte sie es zurück. Sie würde nicht erreichbar sein. Für ihn nie mehr. Und für andere auch nicht.

Sie schleppte ihr nun ziemlich schweres Gepäck auf den Hof, holte ihr Fahrrad aus dem Keller, legte die Taschen nur behelfsmäßig darauf, öffnete die Tür zur Straße, sah sich schnell nach allen Seiten um, er war noch nicht in Sicht, und beeilte sich, um die Ecke zu kommen. Denn jetzt hatte sie nur noch zwei Minuten zur Verfügung. Er würde gleich auf dem Parkweg auftauchen, und wenn der Hund sie sähe, würde er bellen. Sie mochte ihn nicht, den kleinen Pudel, den der Mann vor einem halben Jahr angebracht hatte. Aber auch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Er würde sie nicht zu sehen oder zu riechen bekommen.



***